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jSTordostäclisel des Chores liegt ein Treppenthurm. I)er West-
thurm und die ganze Südmauer sind aus Granitquadern, 28
bezw. 29 Schichten lioch, in guter Technik erbaut worden, 1)

und zwar gleichzeitig, etwa um die
Mitte des XIII. Jahrliunderts, wie
das trefflich erlialtene Westportal und
der 'Rest eines jetzt vermauerten spitz-
bogigen Granitfensters in der Siid-
mauer beweisen. Jede Einfassungs-
scliicht des Portals ist, wie der
| Holzschnitt zeigt, prolilirt und der

äufsere Umrahmungsbogen mit einer
Flachschicht ausgestattet worden. Das Südfenster war ein-
theilig, aber breit geschmiegt. Endlich deutet der kräftige
Gurtbogen an der Westseite des ersten Schiffsjoches darauf
hin, dafs er der Ersatz eines älteren Quergurtes ist, welcher
im ersten Bau die Grenze zwisclien dem Langhause und dem
Chore bezeichnete. Hierauf gestützt darf man sagen, dafs der
erste Bau eine holzgedeckte, einschiffige Granitkirche mit un-
mittelbar anscldiefsendem Chore gewesen ist, wie in so vielen
Stadt- und Dorfkirchen der Neumark, die alle dem XIII. Jahr-
liundert entstammen.

Als später eine Erweiterung nötliig wurde, geschali das
so, dafs man nach Abbruch der Nordmauer unter Yerwendung
ihres alten Materiales eine neue Backsteinmauer und eben-
solche Schiffsarkaden errichtete und gleiclizeitig nach Erhöliung
der Südmauer die zweischiffig gewordene Kirche überwölbte.
Das neue Seitenschiff erhielt Kreuzgewölbe und das Mittel-
scliiff Sterngewölbe auf bündelförmigen Bippen mit scheiben-
artigen Schlufssteinen. Befremdend bleiben die verschiedenen
Arkadenspannungen in den ersten drei Schiffsjochen, sowie die
plötzliche Zweitheilung des letzten Ostjoches im Seitenschiffe.
Vermuthlich lag hier, was der kleine Treppenthurm andeutet,
die zweigeschossige Brüderschafts - Kapelle der um 1320 ge-
stifteten Elenden- oder Kalandsgilde. Noch sieht man die alten
Oberfenster und darf aus der Thatsache, dafs beide Joclie
keine Granitplinthen wie der Chor und die anderen Seiten-
schiffsjoche besitzen, sondern ganz aus Ziegeln bestehen, den
Sclilufs ziehen, dafs hier ein besonderer Bautheil unabhängig
von seiner Naclibarschaft angelegt worden ist.

Es ist daher sehr möglich, dafs der Aufbau des Seiten-
schiffes sclion in den Anfang des XIY. Jahrhunderts — um
1318 — fällt und dafs der Bau jener Kapelle sicli wenige
Jahre später angeschlossen liaben wird. Dafür sprechen nicht
blofs die kräftig abgestuften Arkaden, weldie an die Bogen-
reihen der Ivlosterkirche zu Berlin erinnern, sondern auch die
Fagadensysteme, besonders das der Südseite — Fig. 1 —,
durcli die absatzlos aufsteigenden Strebepfeiler, durch die An-
ordnung gedoppelter Gitterfriese in halber Höhe —- ähnlich
Güldenstern —, durch die breit eingefafsten, zweitheiligen
Fenster mit den geput-zten Blendenreihen in ihrer oberen Hälfte.
Auch das alte, jetzt vermauerte zweipfortige Südportal — vergl.
Fig. 1 — rechts von der Vorhalle, mit seinen Profilen und
Details, darunter mit Weinlaub geschmückte Kämpfer, unter-
stützt jene Annahme. Einige Einzelheiten veranschaulichen
Fig. 3 u. 4. Der Erweiterungsbau hat sich aucli auf den Um-
und tlöherbau des Thurmes mit eingesenkten, verputzten Blend-
streifen, zweitlieiligen, spitzbogigen Blendnischen und eben-
solchen Fenstern — Fig. 5 — nebst Sägeschichten erstreckt.
Etwas jünger scheint das Obergeschofs zu sein, welches drei
zweitheilige, flachbogige Fenster — Fig. 5 —, die an einen
gedeckten Wehrgang erinnern, besitzt. Vier moderne Fialen
betonen die Ecken und dahinter erhebt sich, weit zurücktretend,
der quadratische, mit einer nüchternen welschen Haube be-

1) Diese wielitige Thatsacbe ist bei Anfertigung der Zeichnung — Fig. 1 —
leider iibersehen und dalier im Stiche nicht charakterisirt worden.

endigte Thurm, welcher nach einem Brande von 1752 irn
Jahre 1782 neu erbaut wurde. Der alte Thurm war hoch und
schlank in zwei Absätzen erbaut, mit Backsteinthürmchen auf
den Ecken des Unterbaues nebst Wehrgang dazwischen und
vier liochragenden Benaissancegiebeln, über denen sicli die
acliteckige Holzspitze erliob. Auf der Grenze zwischen Schiff
und Chor stand ein schlanker Dachreiter. Vergl. den Prospekt
bei Merian a. a. O. S. 30, dessen Zuverlässigkeit dadurch ein-
geschränkt wird, dafs er dem vierjochigen Langhause nocli
einen dreijochigen Langchor auhängt, während der jetzige Clior
ein Polygonbau ist.

Die auf der Südseite liegende, durch iible Bestaurationen
sehr entstellte Vorhalle schmückt ein mit quadratischen Strebe-
pfeilern, schlanken Spitzbogenblenden und Krabben geschmück-
ter Giebel, welclien Fig. 1 als Ganzes und Fig. 2 in einigen
Einzelheiten darstellt. Diese Vorhalle, ursprünglich wolil eine
Brüderschafts- oder Gildenkapelle, ist unzweifelhaft jünger als
der alte Erweiterungsbau und gehört, nach dem Charakter ihrer
Kunstformen beurtheilt, sicher in das XV. Jahrhundert. Das
Cliorpolygon mit seinen zweitheiligen, tiefgelaibten Fenstern,
absatzlosen Strebepfeilern und einem Gitterfriese unter dem
Kranze, ist eine schulmäfsige Arbeit von mittlerem Wertlie
und ebenfalls jünger als der Erweiterungsbau. x)

Steinformat: am Chore und an der Nordseite 5 — 57-2
und 3V2 —37* Zoll.

Den alten, aus schwedischem Kalksteine bestehenden und
kunstgeschichthch sehr werthvollen Taufstein, der alle Kenn-
zeichen des XIII. Jahrhunderts in seinern plastischen Fries-

streifen besitzt, hat man
leider aus der Kirche ent-
fernt und im Freien als
Blumentisch verwerthet. Eine
Skizze desselben veranschau-
licht der Holzschnitt.

Das Innere besitzt bei
bescheidenen Höhenmafsen
günstige Verhältnisse, doeli
ist der echte schlichte Kunst-
charakter der mittelgrofsen
und bescheiden ausgestatteten
Kirche durch eine in jüng-
ster Zeit vorgenommene und
in Formen und Farben über-
reieh durchgeführte Bestau-
ration leider vollständig be-
seitigt worden. Auch das Aeufsere hat dadurch gelitten, dafs
man gleichzeitigt bei Festhaltung der mittelalterlichen Stein-
formate glatte Prefssteine statt der alten Händstrichsteine ver-
wendet hat.

Dorfkirche zu Vietnitz.

Historische Nachrichten fehlen fast ganz, denn die beiden
noch vorhandenen, auf Vietnitz bezüglichen Urkunden beziehen
sicli auf den See dieses Namens, niclit auf das Dorf. Das
Kloster Lehnin liatte im Lande Zehden — in territono Cede-
nensi — 250 Hufen erworben, welche in der Umgebung der
Seeen Vietnitz und Narst lagen und Bischof Wilhelm von
Camin bestätigte 1248 ihm die Zehnterhebung von diesem
Besitze. 2 3) Später —- 130G — wird der See mit vier anderen
Seeen an die Stadt Morin verkauft. 8) Man darf aber ver-
muthen, dafs das rührige Lehnin das Dorf und die Kirche
bald nach der Mitte des XIII. Jahrhunderts angelegt liaben wird.

1) Schaubild der Kirche von Nordosten gesehen bei Bergau S. 148.

2) Kiedel X, S. 204. — v. Raumer, Neumark, S. 18 u. 83 Anmerk. 4
u. S. 86 Anmerk. 3.

3) Riedel XIX, S. 68 ff.
 
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