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Archiv für christliche Kunst: Organ des Rottenburger Diözesan-Kunstvereins — 15.1897

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Nr. 9
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Keppler, Paul Wilhelm von: Der romanische Kirchenbau, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.15902#0086
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uischen Slis gründlich kannten, selbst hand-
habten und doch ihil alsbald unbedenklich
dein gothischen opferten?

Wir wollen keinen Nachdruck darauf
legen, daß so gar rasch unb plötzlich in
Deutschland die Bekehrung zur Gothik sich
doch nicht vollzog, daß ja bekanntlich in
einem Uebergangsstil sich die kirchliche
Architektur von der Ronianik verab-
schiedete lind der Gothik allinählig zu-
ivandte. „Daß Deutschland nicht sofort",
lesen wir in dein eben erschienenen zweiten
Band der „Geschichte der christlichen Kunst"
von F. Ä. Kraus (Freibnrg, 1897 II,
159), „auf die Neuerung eingieng, verstand
sieb, bei bem Charakter der Nation und
bei der höheren und befriedigenderen Aus-
bildnng, welche die romanische Architektiir
bei »ns am Rheine erfahren hatte, von
selbst . . . mir allinählig brach sich die
Gothik Bahn". Wir wollen auch nur
andeuten, daß jene Beweisführung aus
dein Verhalten dieser Baumeister und
Bauhütten etwas bedenklich ist, — um
der Konsequenzen willen, die daraiis ge-
zogen werden könnten. Leicht könnte es
nämlich jemand einsallen, mit demselben
Argument die Berechtigung des Renais-
sancestils beweisen zu wollen. Trat nicht
bei seinem Eintritt in die Welt fast ein
noch rascherer Abfall von der Gothik
ein, — von der Gothik, welche doch nach
Reichensperger, Jansseu n. a. durchaus
nicht im Zeichen des Verfalls angelangt
war, sondern vielmehr in der Spätgothik
einen neuen, lebenskräftigen Aufschwung
genommen hätte.

Aber jene ganze Beweisführung taugt
aus einem anderen Grunde nichts. Das
Verhalten jener Baumeister ist für uns
in keiner Weise maßgebend, denn wir be-
finden uns in ganz anderer Lage als sie.
Ihnen konnte die Frage kein Kopfzer-
brechen machen, ja kaum anfsteigen, in
welchem Stile sie bauen sollten. Sie
bauten im Sule ihrer Zeit, bauten roma-
nisch, solange der Stil der Zeit romanisch
war und gothisch, als die Gothik der Stil
der Zeit geworden war. „Das Mittel-
alter", bemerkt Kraus (a. a. O. S. 160
Aum.), „hat über Stil und Stilwechsel
anscheinend nicht reflektiert, wenigstens be-
sitzen wir kein einziges Zengniß dafür,
daß die Zeit, welche schuf, über diese Dinge

bewußter Weise Reflexionen angestellt
hätte". Der Stil der Zeit war eine
Macht, der sich entziehen zu wollen keinem
Baumeister in den Sinn kommen konnte.
Das blieb durch alle Jahrhunderte so,
und erst unsere Zeit nimmt, wie Ein-
gangs bemerkt, hierin eine Ausnahmestel-
lung ein; wir dürfen und müssen fragen,
in welchem Stil wir bauen sollen, denn
wir haben keinen eigenen Stil.

Auch das andere Raisonnement ist nicht
entscheidend und zwingend: der gothische
Stil ist nur die Fortentwicklung des ro-
manischen, die reife Frucht der romanischen
Periode; wer wird also das Unvollkom-
mene dem Vollkommenen, das Unfertige
dem Fertigen, das Unreife dem Reifen
vorziehen oder neben dem letzteren das
Erstere noch festhatten wollen? Die Palä-
strinamusik, der kontrapnnktische, mehrstim-
mige Chor hat sich aus dem einstimmigen
Choral herausgebildet und bezeichnet ge-
wiß eine höhere Stufe künstlicher Voll-
endung, und doch bleibt neben ihr der
Choral noch im Recht und in Pflege.
Oder ein Vergleich, welcher näher liegt:
zweifellos hat sich die Hochgothik ans der
Frühgothik entwickelt und verhält sich
erstere zur letzteren wie die aufgegangene
Rose zur noch geschlossenen Knospe. Aber
wiewohl die Hochgothik vollkommener ist,
das Strebesystem erst mit ganzer Konse-
quenz durchführt, erst vollen Ernst macht
mit dem gothischen Gedanken, ja eigentlich
allein den vollen Rechtsanspruch ans alle
jene der Gothik gespendeten Lobsprüche
erheben kann, fällt es doch nicht einmal
einem der exclusiven Gothiker ein, unsere
kirchliche Architekinr streng auf die Hoch-
gothik verpflichten zu wollen. Man hat
nichts dagegen, wenn man über die
Hochgothik hinüber ans die Frühgothik zn-
rückgreift, ja man empfiehlt dies sogar,
und Schrörs (Zeitschrift IX, 2467) möchte
gerade die Frühgothik als Normalstil für
unser heutiges Banen festgehalten wissen.
Wenn man hier das Unvollkommene neben
dem Vollkommenen gewähren läßt, ja cs
ihm vorzieht, warum soll es so ganz wider-
sinnig sein, heutzutage auch noch romanisch
zu bauen, zumal der romanische Stil doch
etwas Fertigeres, in sich Abgeschlosseneres
ist, als der frühgothifche, der weit mehr
die Signatur des Werdens, des lieber-
 
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