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Andreae, Bernard
Odysseus: Archäologie des europäischen Menschenbildes — Frankfurt a.M., 1982

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https://doi.org/10.11588/diglit.15161#0122
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sich später herausstellte, ursprünglich die Gruppe von Skylla und dem
Schiff des Odysseus ihren Platz gehabt hatte, wurde ein Theodolit aufge-
stellt, dessen Position durch vier mit roter Farbe markierte charakteristi-
sche Punkte an den Höhlenwänden, vier sogenannte Riferimenti, genau
fixiert war. Sobald nun bei den Ausgrabungen ein Skulpturenfragment
aus dem Sand und Schlamm der Verschüttung auftauchte, wurde ein
Zettelchen mit einer Nummer daraufgeklebt, und unter der gleichen
Nummer wurden die mit dem Theodoliten exakt vermessene Länge,
Höhe und Breite in ein fortlaufendes Grabungstagebuch eingetragen.
Auf diese Weise waren schon Tausende von Fragmenten geborgen wor-
den, als der Ausgräber zu Füßen des Standortes des Theodolits auf eine
zerbrochene Marmorplatte mit einer mehrere Zeilen umfassenden grie-
chischen Inschrift stieß. Er rief sofort den Soprintendenten in Rom an
und berichtete von seinem Fund.

Es ist bezeichnend für die ältere Schule der Altertumswissenschaft,
daß eine Inschrift noch größeres Interesse erweckt als die prächtigsten
Skulpturenfunde. In der Tat besitzt eine Inschrift eine andere Art von
Evidenz als ein nur aufgrund seines Stiles zu beurteilendes Kunstwerk.
Die Skulpturen von Sperlonga mögen der Laokoon-Gruppe im Vatikan
so ähnlich sehen wie ein Zwilling dem anderen, niemand hätte ohne die
Inschrift gewagt, sie mit den gleichen Bildhauern unmittelbar zu verbin-
den. So aber schien die Sensation perfekt. Giulio Jacopi begab sich sofort
an den Ort der Ausgrabung und erkannte, als er die Namen der Lao-
koon-Künstler las, mit einem Schlage die außerordentliche Bedeutung
dieser Funde.

Wir wissen nicht, was sich zwischen dem zuständigen Leiter der Anti-
kenbehörde und dem Straßenbauingenieur abgespielt hat, der zwar als
Laie, aber doch mit erstaunlicher Hingabe und Genauigkeit auf seine ei-
genen Kosten den größten Teil der Skulpturen von Sperlonga ausgegra-
ben hatte. Tatsache ist, daß von nun an die Soprintendenz die Ausgra-
bung übernahm und daß Enrico Bellante den Ort verließ und alle Unter-
lagen seiner Ausgrabungen mitnahm, sei es, daß man ihn nicht um deren
Überlassung gebeten oder diese nicht für nötig befunden hatte, sei es,
daß ihm die Art und Weise, wie ihm die Grabungskonzession entzogen
wurde, nicht zusagte. Jedenfalls ist er erst vierzehn Jahre später auf Ein-
ladung des neuen Direktors des Nationalmuseums von Sperlonga, Baldo
Conticello, an den Ort zurückgekehrt. Der Verfasser war bei diesem
denkwürdigen Zusammentreffen zugegen und hat ebenso die Offenheit
bewundert, mit der Enrico Bellante alle wissenschaftlich interessieren-
den Fakten seiner Ausgrabung mitteilte sowie wertvolle Fotos und vor
allem die entscheidend wichtigen Fundpläne und -notizen zur Verfü-

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