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Andreae, Bernard
Schönheit des Realismus: Auftraggeber, Schöpfer, Betrachter hellenistischer Plastik — Mainz, 1998

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https://doi.org/10.11588/diglit.14992#0025

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Begriffe: Realismus, Schönheit, Grösse

grossen Gruppen der Gallier, der Skylla, der Dirke, des Laokoon
oder die Friese des Grossen Altares von Pergamon fähig war. Für
Xenokrates, der in nachklassischer Zeit, aber ein Jahrhundert vor
den erwähnten Schöpfungen lebte, war selbstverständlich, dass die
Künstler nicht mehr die ideale Schönheit, sondern die Schönheit
des Realismus anstreben mussten. Deswegen ist der erste der drei
Begriffe, welche die Kunst dieser Zeit bezeichnen, Realismus, der
aber erst durch Schönheit und Erhabenheit Kunst werden kann.

Nach den grossen Epochen der griechischen Kunst, die vom geo-
metrischen über den archaischen bis zum klassischen Stil eine bei-
spiellose Entwicklung durchlaufen und dabei eine von Anfang an
grundgelegte, mit der Zeit entfaltete Gesetzmässigkeit als Garanten
der Schönheit zum Prinzip der Formung gemacht hatten, war es ge-
boten, nun, nachdem die Gesetze der Kunstschönheit erarbeitet wa-
ren, die Schönheit zuerst in der Natur selbst zu suchen. Vom letzten
der grossen klassischen Künstler, Lysipp, wird die Aussage überlie-
fert, er habe nur zwei Lehrer anerkannt: den Doryphoros Polyklets
und die Natur (Cic, Brut. 296; Plin., nat. 34, 61). Der eine lehrte ihn
das Ideal, die andere lieferte ihm den Gegenstand. Die hellenistische
Kunst der Schüler Lysipps hatte keine andere Wahl, als diesen Ge-
genstand an die erste Stelle zu setzen. Das heisst, die Realität der
Welt, so wie sie sich in ihrer Vielfalt darbietet, wurde als das eigent-
liche Thema der Kunst entdeckt, die sich aber nicht in der Nachah-
mung der Natur erschöpft, sondern deren Schönheit und Grösse zur
Geltung bringt.

Das Bewusstsein der Existenz eines Kanons, wie zum Beispiel Po-
lyklet ihn in seinem Werk auch theoretisch erörtert hatte, die Struk-
turgesetze, die anerkannte Lehre von Proportion, Symmetrie und
Rhythmus waren eine Richtschnur gewesen, die ein Abgleiten in
kruden Realismus verhindert hatte.

Was aber sollte nun garantieren, dass ein realistisches Werk ein
Werk der Kunst wurde? Xenokrates nennt die beiden Begriffe der
Schönheit und der Erhabenheit. Das ist aufregend. Denn für beide
Begriffe existiert keine naturgegebene Gesetzmässigkeit, aus der
man sie ableiten könnte. Diesen Begriffen haftet sogar ein Odium
an. Der Wunsch, Schönes und Grosses schaffen zu wollen, erscheint
selbstverständlich, die Forderung banal, zugleich kaum erfüllbar.
Und doch gab es ein durch mühsame Kleinarbeit und mit strenger
Disziplin in der sogenannten klassischen Kunst errungenes und
nachhaltig geprägtes allgemeines Bewusstsein davon, was schön
und was erhaben sei; und diesem möglicherweise im letzten sub-
jektiven, aber durch die künstlerische Gesetzmässigkeit objektivier-
ten Prinzip, das den hellenistischen Künstlern in zahllosen Kunst-
werken vor Augen stand, fühlte die Kunst sich nun verpflichtet,
ohne dazu gezwungen zu sein, die klassischen Kunstgesetze selbst
uneingeschränkt anwenden zu müssen. Das Durchdrungensein von

Doryplwros
Neapel, Mus. Naz.
Um 450 v. Chr.

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