Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Andreae, Bernard
Schönheit des Realismus: Auftraggeber, Schöpfer, Betrachter hellenistischer Plastik — Mainz, 1998

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.14992#0120
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Die Nike von Samothrake

dass es sich um ein eklektisches Werk des 1. Jahrhunderts v. Chr
handelt, welches einen Seesieg des Pompeius über die Piraten im
Jahr 67 v. Chr. verherrlicht.

Die Nike von Samothrake ist von allen diesen Werken das bedeu-
tendste. Der mächtige Frauenleib mit den vollen, vom dünnen Lei-
nenchiton umspielten und im Unterkörper vom Wollmantel um-
rauschten weiblichen Formen, dem Bug der fülligen, gespannten
Brüste, deren Umriss durch das sich anschmiegende Gewand und
die wie eine Girlande zwischen den Spitzen durchhängende Falte
modelliert wird, mit dem üppigen Becken und den kräftigen Beinen
ist bei aller körperlichen Schwere von labiler Beweglickeit. Mit dem
rechten steilen Bein hat die im Sturm herabfliegende Gestalt fest auf
dem Deck aufgesetzt. Der von der Hüfte herabgeglittene Mantel
wird gegen Schenkel und Knie gepresst und weht flatternd an den
Seiten nach hinten. Der obere Rand des Manteltuchs bildet einen sich
zusammenschiebenden Wulst und fällt schräg über die Leistenbeu-
ge. Von der anderen Seite schlägt in kurzen Wellen der lockere Saum
des unter der Brust gegürteten Überschlags ihres Chitons dagegen
und bildet ein die Leibesmitte betonendes kielbogenförmiges Motiv
von erotischer Wirkung. Das linke Bein pendelt nach hinten und ta-
riert den labilen Stand der Göttin aus, die ihren Oberkörper in der
gleichen Schräge wie das zurückgestellte Bein nach vorn in den
Wind drängt. Von der rechten Seite sieht man, wie diese Schräge den
ganzen Körper vom linken Fuss bis zur Spitze der Brust durchzieht,
nur der Kopf war offenbar senkrecht gehalten und blickte nach links.
Die rechte Hand, die erst 1950 gefunden und mit zwei in Wien auf-
bewahrten, aus einer früheren Grabung stammenden Fingern ver-
bunden werden konnte, Hess wohl eine Siegestänie im Winde flat-
tern. Die Flügel und die Körperschräge bilden zueinander einen
rechten Winkel, welcher der bewegten Gestalt Festigkeit gibt.

Schönheit, Erhabenheit, weibliche Fülle und Kraft der Bewegung
dieser Figur überwältigen den Betrachter, der das plastische Bild-
werk von weitem und von nahem als gleich grossartig empfindet.
Wenn er über die Stufen der Treppe im Louvre zu ihm hinaufsteigt,
kann er sich an die Stufen des Theaters erinnert fühlen, über dessen
oberem Rand die Nike am antiken Aufstellungsort aufragte. Tritt er
dann auf dem Treppenabsatz nah vor die Skulptur, kann er die Ein-
zelformen und die Steinmetzbravour bewundern. Die Kunst des
Bildhauers bringt das Wogen des Leibes unter dem enthüllenden
und verhüllenden Gewand aus teils ganz dünnem, teils dickem
Stoff mit sicherer Unterschiedlichkeit der Bearbeitung zum Aus-
druck. Man fühlt sich an die berühmten sogenannten Tauschwe-
stern aus dem Parthenon-Ostgiebel (um 44CM30 v. Chr.) erinnert
und auch an die klassische fliegende Nike des Paionios (um 420
v. Chr.) in Olympia, aber bei einem genauen Vergleich erkennt man,
wieviel naturnäher und realistischer die Nike von Samothrake ist.

116
 
Annotationen