Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 15.1904-1905

DOI Artikel:
Michel, Willhelm: Idealistische Kunst
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.7137#0185
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
IDEALISTISCHE KUNST.

Zu den stillschweigenden Übereinkünften,
die in unseren Tagen eine grosse Rolle
spielen, gehört unter anderem auch die bei-
spiellose Entwertung eines Begriffes, an dessen
Ausbildung frühere Zeiten ihre beste Kraft,
ihre höchste Energie gesetzt haben, die Ent-
wertung des Begriffes »Ideal«, und seiner
Ableitungen. Bitte, keine Ausflucht, es ist so.
Von der »Realpolitik« angefangen bis zum
»Realismus« in der Kunst, vom Schlagwort
des »realen« Lebens bis zum Schlagwort
der »realen«, der »exakten« Wissenschaften
predigt eine ganze Reihe stereotyper Klischee-
worte, die wie Butter über die Lippen der
Zeitgenossen schlüpfen, eine dunkle Feind-
schaft gegen die Idee, die
man, mit dem Instinkt der
Bosheit, direkt zu einer
Feindin des Lebens um-
konstruiert hat. Wo das
Wort »Idealismus« heute
gebraucht werden mag,
führt es in der Regel un-
sichtbare Gänsefüsschen mit
sich, steht es in einem ver-
zerrenden, hämischen Licht.
»Idealist« — ein modernes
Schimpfwort! Ein Name
für Träumer, für Halb-
idioten, für Existenzen, die
der Schrecken und das Er-
barmen jedes »realistischen«
Fettbürgers sind. Weite
Kreise der sogenannten Ge-
bildeten wissen überhaupt
nicht mehr, was »Idee«, was
»Ideal« bedeutet. Die Worte
sind sinnlos geworden und
gelten als schlechte Münzen,
die man nicht gerne ge-
braucht. — Und nun gar
»idealistische Kunst!« —
Man höre nur genauer hin:
Liegt nicht schon in dem
blossen Worte die Andeu-
tung eines absprechenden
Urteils? Die Andeutung,
dass hier etwas Wurm-

stichiges, Regelwidriges im Spiele ist? —
Nun, ein Gang durch die nächste, be-
liebige Kunst - Ausstellung zeigt mangels
aller anderen Beweise deutlich genug, wie
die Künstler über den Idealismus in der
Kunst denken mögen, wie sich nicht etwa
ihr Gehirn, sondern ihre tiefsten, innersten
Instinkte zur Idee verhalten. Jede moderne
Ausstellung verkündet mit tausend Zungen
die Tyrannis des Modells, die sklavische Ab-
hängigkeit des Künstlers vom Objekt. Ist
es ein Zufall, dass unsere Kunst gerade in
den Fächern exzelliert, in denen die Hin-
gabe an das Modell zur Not noch eine
Tugend bedeutet, nämlich in der Landschaft,

PATRIZ HUBER f.

Etagere aus Nickel.
Hohenzollcrn-Kunstgewerbehaus, H. Hirschwald—Berlin.

177
 
Annotationen