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Kiebitz vonIulius Kreis

Ich bin ein leidenschaftlicher Nichtschachspieler. Schon von Iüng-
lingsbeinen an wuchs ich im Cafe Flora inmitten dieses königlichen
Spiels auf, ohne nur hinter seine elementarsten Geheimnisse kommen
zu wollen. Als eifrigem Leser, der um seine zwei Kaffeegroschen den
vom Wirt gehaltenen Journalen keine Zeile schenkte, las ich auch ge-
wissenhaft die Schachecken und berauschte mich an den kabbalistischen
Zeichen und Buchstaben: etwa Tg 4 nach L C 7, geteilt durch 6 x Wur-
zel aus 8 k 3 zieht an und setzt Weis; nach fünf Zügen matt oder so
ähnlich. Uber diesen mir gänzlich unverständlichen Zahlen- und Buch-
stabenkomplexen lag der Schauer des Geheimnisvollen, die Mystik von
Zeichen, deren Sinn nur den
Zugehörigen einer Sekte be-
kannt ist.

Ich habe nichts vergessen
und nichts dazugelernt. Auch
heute noch beteilige ich mich
im Cafe Flora als teilneh-
mendster Zuschauer an allen
Partien und Turnieren in
Bltcknähe, wenn jene graue
Stunde über mich kommt, da
man allein und verlassen mit
zerlesenem Gehirn den Zei-
tungsberg hinter sich hat und
vor Langeweile anfängt, die
Zacken am Häkelmuster des
Vorhangs zu zählen.

Dann stelle ich meinen
Stuhl interessiert in die
Bähe einer Schachpartie,
stütze, den gewiegten Fach-
mann hochstapelnd,das Kinn
in die Hand und sehe zu.

Zwei Matadore (oder
heißt es Matadoren?) des
Klubs sitzen sich gegenüber.

Sie kennen mich. Nicken mir zu. — Um inich webt nämlich der Schleier
des ganz großen Spielers. Im Lauf der Jahre wiederholt zu Partien
eingeladen, lehne ich stets bescheiden ab, den grundsätzlichen Nicht-
spieler herauskehrend, dessen Nerven den Aufregungen eines so hoch-
klassigen Spiels wie mit mir nicht gewachsen sind. Ich folge dabei
dem Beispiel mancher Literaten im „Flora", die — ohne je eine
Zeile zu schreiben — durch geschickte Inszenierung den Nimbus eines
durch keinerlei Dichtung vor und nach ihnen übertroffenen Schaffens
erreicht haben.

Werde ich wirklich je einmal von ganz Frechen, Ehrfurchtslosen über
einen Schachfall interpelliert, so sage ich sehr tief nachdenkend: »Ich
bin der Ansicht..." Und dann eine tiefe Kunst- und Denkpause ~ in
die der andere sofort einfällt: »Man hätte nämlich hier mit S f 3 nach
h 4 und den Königsbauern mit dem Läufer isolieren und..." Hat der
Mann dann seine Weisheit ausgepackt, so nicke ich beipflichtend und
sage: „ Ganz Ihrer Ansicht, verehrter Herr! Ich bin hier ganz meiner
Meinung. Bei Speziosa, einem alten, leider nur zu unbekannten
armenischen Schachklassiker, gibt es hier noch eine Variante ... war-

ten Sie, ich werde mal drüber Nachdenken-ich sehe mir die Partie,

die hier in Frage kommt, noch mal bei Speziosa an... Aber Sie haben
im Prinzip ganz recht. — "

Worauf mein Ruf noch gesteigert ist. Ich verfolge wohlwollend die
Züge auf dem Brett. — Wenn ich gut aufgelegt bin, nicke ich dem
Professor nach einem Zug diskreten Beifall, worauf sein Partner
ängstlich und nervös nach neuen Kombinationen sucht. Bisweilen
genügt mein leises Stkrnrunzeln, eine Disposition über den Haufen
zu werfen. Vor entscheidenden gewagten Zügen schielen beide Spieler
auf mich aus den Augenwinkeln. Ich sitze dann wie das verschleierte

Bild von Sais, ganz un-
durchdringliche Maske -
ohne Wimperzucken. Das
verschafft mir den Ruf eines
angenehmen gentlemanltken
Kiebitzes, der auf einwand-
freies Spiel hält.

Ist dann der Zug getan,
so spende ich je nach Laune
einen warmen, gütigen, er-
munternden Blick oder ein
leises Achselzucken.

Dazwischen schreibe ich
auf einem Blättchen Papier
meine Wäscherechnung zu-
sammen und vergleiche die
Aufzeichnung mit der Si-
tuation auf dem Brett.

Nur die gute Erziehung
hindert die Schachgäste im
Flora, mir über die Schulter
weg in mein Papier zu
schauen. Aber alle schielen.

Hin und wieder, wenn ich
aus Mienen und Gehaben
der Umstehenden merke, daß
eine besonders kostbare Partie zu Ende geführt wurde, drücke ich dem
geehrten Sieger spontan die Hand zum Glückwunsch.

Aber es gibt auch unangenehme Spieler. Als ich kürzlich bei der
Partie des Mittelgewichtsboxers Längentretter einem Zug seines Part-
ners wohlwollenden Beifall nickte und — als Längentretter den geg-
nerischen Turm nahm — mißbilligend den Kopf schüttelte, stand Längen-
tretter auf (er ist ein sehr temperamentvoller Mensch) und entfernte
mich schnell und gründlich aus dem Lokal.

Die Schachgäste waren entsetzensgelähmt, aber kein Widerspruch
kam auf,- denn Längentretter besitzt die Weltmeisterschaft - nicht im
Schach, sondern im Boxen.

Aber wie das so ist: Der Bann vor meiner Autorität scheint ge-
brochen zu sein. — Man darf vor seinem Volk nie klein erscheinen.

Als ich gestern wieder nach längerer Pause — schüchtern — bedenk-
lich mit den Wimpern zuckte, sagte der Professor: »Sie Idiot."

Und alle nickten beifällig.

Ich werde nun meine außergewöhnliche Sachkenntnis den Whist-
spielern im Cafe Hermes zugute kommen lassen.

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Werk/Gegenstand/Objekt

Titel

Titel/Objekt
"Kiebitz"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Fliegende Blätter
Sachbegriff/Objekttyp
Grafik

Inschrift/Wasserzeichen

Aufbewahrung/Standort

Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Universitätsbibliothek Heidelberg
Inv. Nr./Signatur
G 5442-2 Folio RES

Objektbeschreibung

Maß-/Formatangaben

Auflage/Druckzustand

Werktitel/Werkverzeichnis

Herstellung/Entstehung

Entstehungsdatum
um 1925
Entstehungsdatum (normiert)
1920 - 1930
Entstehungsort (GND)
München

Auftrag

Publikation

Fund/Ausgrabung

Provenienz

Restaurierung

Sammlung Eingang

Ausstellung

Bearbeitung/Umgestaltung

Thema/Bildinhalt

Thema/Bildinhalt (GND)
Karikatur
Satirische Zeitschrift

Literaturangabe

Rechte am Objekt

Aufnahmen/Reproduktionen

Künstler/Urheber (GND)
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Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
In Copyright (InC) / Urheberrechtsschutz
Creditline
Fliegende Blätter, 162.1925, Nr. 4156, S. 158

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