Geschichten aus dem
deutschen Sprichwortschah
Von Julius Kreis
Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm
Mit den Äpfeln war es nun einmal so: Jeder Tropfen Saft, jede
Raupe, jede Made, alle, alle sagten immer wieder: „Fallt nicht weit
vom Stamm!" Selbst als die Apfel noch Blüten waren, flüsterten
ihnen die Bienen schon in die Staubgefäße: „Fallt nicht weit vom
Stamm!" — Nun, die Apfel — gute Kinder — ließen sich's denn ge-
sagt sein, und als die Herbstzeit kam, da fielen sie der Reihe nach immer
möglichst nah am Baum zu Boden, und riß einen der Wind je weiter
weg — dann kullerte der sogleich wieder möglichst nahe an den Stamm
hin, daß alles in Ordnung war.
Der brave Präzeptor ging mit seinem Schüler durch den Obstgarten
und besprach mit ihm das Thema der deutschen Hausaufgabe: „Der
Apfel fällt nicht weit vom Stamm." — „Siehe an, Knabe!" sprach
der Präzeptor und wies auf die Apfel zu Füßen des Stammes: „Ad
römisch I: Beispiele aus der Natur! Hier siehst du, wie, dem Sprich-
wort gemäß, die Apfel alle nicht weit vom Stamm gefallen sind, wie
denn überhaupt die Natur das Vorbild einer Fülle von Lebensweis-
heit ist und uns ein Bild menschlicher Verhältnisse darbietet, welches..."
2n diesem Augenblick blies oben im Wipfel ein kleiner, frecher, rot-
backiger Apfel die Backen auf, nahm einen Anlauf — — wupp — und
flog und flog - irgendwohin ~ — nur nicht nah an seinen Stamm.
- An einem ganz anderen blieb er zufällig liegen.
Der Präzeptor und der Knabe fanden ihn hier, als sie in metho-
dischem Lehrgespräch weitergeschritten waren.
„Hier siehst du wieder die Bestätigung und Betätigung unseres
Themas", sprach der Lehrer und wies auf den Apfel. „Siehe, er liegt
dicht beim Stamm."
Zinnroicbe Einrichtung
„Ach," rief der Mann — sonst selten schwärmerisch — die große
Natur ist ja ein einziges Aufsatzthema!"
„Entschuldigen Sie," sprach da der kleine Apfel aus dem Grase
heraus, mit der frech-bescheidenen Miene des Klassenlausbuben, „das
ist gar nicht mein Stamm. Ich gehöre zu einem ganz andern Baum,
Herr Präzeptor! Ich bin nur zufällig hierher gefallen, wciÜs mir
Spaß gemacht hat. Mein Stamm steht da drüben irgendwo ..."
„Wie!" rief der Lehrer empört, „du ungeratene Frucht! Du
Früchte!!! Du erlaubst dir, die Apfelsahungen so empörend zu über-
treten ! Sitkennote 5! Weißt du nicht, daß der Apfel nicht weit vom
Stamm fällt! —"
Aber der Knabe hob ihn heimlich auf und streichelte ihm in der
Tasche die glatte Haut.-
Der Knabe hatte einen grämlichen Vater. Der wollte aus dem
Sohn sein Bild und Gleichnis machen, und der Junge sollte schon mit
Siebzehn in seine ehrbar-bürgerlich-prosttlichen Fußtapfen treten.
Aber mit Siebzehn riß der Junge aus und wurde Schauspieler
bei einer Schmiere . . . und Dichter .. . und noch alle möglichen
des stud. ing Dimpfl
Scheußlichkeiten beging er. Hätte er damals doch nicht von dem Apfel
gegessen, der so weit vom Stamm gefallen war! —
?]ot bricht Elsen
Der Impresario, Mister Moralin, rieb sich die Hände! D a s war
eine Attraktion! — Da konnten sich die Degenschlucker und Feuer-
sresser verziehen!
Moralin ließ gleich große Plakate drucken: „Not bricht Eisen!-
Unerhörte Nummer! Nie dagewesen! Das Staunen der Kulturwelt!
— Die Fachleute wundern sich! — Die Wissenschaft steht vor einem
Rätsel!
Es war aber auch zum Staunen! Auf die Bühne kam ein ganz
schmächtiges Persönchen,- das hatte Gelenke wie ein schwaches, unter-
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deutschen Sprichwortschah
Von Julius Kreis
Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm
Mit den Äpfeln war es nun einmal so: Jeder Tropfen Saft, jede
Raupe, jede Made, alle, alle sagten immer wieder: „Fallt nicht weit
vom Stamm!" Selbst als die Apfel noch Blüten waren, flüsterten
ihnen die Bienen schon in die Staubgefäße: „Fallt nicht weit vom
Stamm!" — Nun, die Apfel — gute Kinder — ließen sich's denn ge-
sagt sein, und als die Herbstzeit kam, da fielen sie der Reihe nach immer
möglichst nah am Baum zu Boden, und riß einen der Wind je weiter
weg — dann kullerte der sogleich wieder möglichst nahe an den Stamm
hin, daß alles in Ordnung war.
Der brave Präzeptor ging mit seinem Schüler durch den Obstgarten
und besprach mit ihm das Thema der deutschen Hausaufgabe: „Der
Apfel fällt nicht weit vom Stamm." — „Siehe an, Knabe!" sprach
der Präzeptor und wies auf die Apfel zu Füßen des Stammes: „Ad
römisch I: Beispiele aus der Natur! Hier siehst du, wie, dem Sprich-
wort gemäß, die Apfel alle nicht weit vom Stamm gefallen sind, wie
denn überhaupt die Natur das Vorbild einer Fülle von Lebensweis-
heit ist und uns ein Bild menschlicher Verhältnisse darbietet, welches..."
2n diesem Augenblick blies oben im Wipfel ein kleiner, frecher, rot-
backiger Apfel die Backen auf, nahm einen Anlauf — — wupp — und
flog und flog - irgendwohin ~ — nur nicht nah an seinen Stamm.
- An einem ganz anderen blieb er zufällig liegen.
Der Präzeptor und der Knabe fanden ihn hier, als sie in metho-
dischem Lehrgespräch weitergeschritten waren.
„Hier siehst du wieder die Bestätigung und Betätigung unseres
Themas", sprach der Lehrer und wies auf den Apfel. „Siehe, er liegt
dicht beim Stamm."
Zinnroicbe Einrichtung
„Ach," rief der Mann — sonst selten schwärmerisch — die große
Natur ist ja ein einziges Aufsatzthema!"
„Entschuldigen Sie," sprach da der kleine Apfel aus dem Grase
heraus, mit der frech-bescheidenen Miene des Klassenlausbuben, „das
ist gar nicht mein Stamm. Ich gehöre zu einem ganz andern Baum,
Herr Präzeptor! Ich bin nur zufällig hierher gefallen, wciÜs mir
Spaß gemacht hat. Mein Stamm steht da drüben irgendwo ..."
„Wie!" rief der Lehrer empört, „du ungeratene Frucht! Du
Früchte!!! Du erlaubst dir, die Apfelsahungen so empörend zu über-
treten ! Sitkennote 5! Weißt du nicht, daß der Apfel nicht weit vom
Stamm fällt! —"
Aber der Knabe hob ihn heimlich auf und streichelte ihm in der
Tasche die glatte Haut.-
Der Knabe hatte einen grämlichen Vater. Der wollte aus dem
Sohn sein Bild und Gleichnis machen, und der Junge sollte schon mit
Siebzehn in seine ehrbar-bürgerlich-prosttlichen Fußtapfen treten.
Aber mit Siebzehn riß der Junge aus und wurde Schauspieler
bei einer Schmiere . . . und Dichter .. . und noch alle möglichen
des stud. ing Dimpfl
Scheußlichkeiten beging er. Hätte er damals doch nicht von dem Apfel
gegessen, der so weit vom Stamm gefallen war! —
?]ot bricht Elsen
Der Impresario, Mister Moralin, rieb sich die Hände! D a s war
eine Attraktion! — Da konnten sich die Degenschlucker und Feuer-
sresser verziehen!
Moralin ließ gleich große Plakate drucken: „Not bricht Eisen!-
Unerhörte Nummer! Nie dagewesen! Das Staunen der Kulturwelt!
— Die Fachleute wundern sich! — Die Wissenschaft steht vor einem
Rätsel!
Es war aber auch zum Staunen! Auf die Bühne kam ein ganz
schmächtiges Persönchen,- das hatte Gelenke wie ein schwaches, unter-
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Werk/Gegenstand/Objekt
Pool: UB Fliegende Blätter
Titel
Titel/Objekt
"Sinnreiche Einrichtung"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Fliegende Blätter
Sachbegriff/Objekttyp
Inschrift/Wasserzeichen
Aufbewahrung/Standort
Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Inv. Nr./Signatur
G 5442-2 Folio RES
Objektbeschreibung
Maß-/Formatangaben
Auflage/Druckzustand
Werktitel/Werkverzeichnis
Herstellung/Entstehung
Künstler/Urheber/Hersteller (GND)
Entstehungsdatum
um 1925
Entstehungsdatum (normiert)
1920 - 1930
Entstehungsort (GND)
Auftrag
Publikation
Fund/Ausgrabung
Provenienz
Restaurierung
Sammlung Eingang
Ausstellung
Bearbeitung/Umgestaltung
Thema/Bildinhalt
Thema/Bildinhalt (GND)
Literaturangabe
Rechte am Objekt
Aufnahmen/Reproduktionen
Künstler/Urheber (GND)
Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
In Copyright (InC) / Urheberrechtsschutz
Creditline
Fliegende Blätter, 162.1925, Nr. 4162, S. 230
Beziehungen
Erschließung
Lizenz
CC0 1.0 Public Domain Dedication
Rechteinhaber
Universitätsbibliothek Heidelberg