V
H O FFN U
Der weise Selim lebte einsam am Rande der Wüste. Tage-
lang hörte er oft keinen anderen Laut als das leise Singen des
Sandes, wenn die letzten Ausläufer des Samums vorüber-
zogen — oder nachts das Heulen der Schakale, wenn sie hungrig
nach Rahrung suchten. Doch blieb des Einsamen Ruhe nicht
immer ungestört. Der Ruf seiner Weisheit hatte sich in der
nicht allzu fernen Stadt verbreitet und gar mancher kam, ent-
weder um seinen Rat zu erbitten, oder ernste, inhaltsreiche Ge-
spräche mit ihm zu führen. Allen gab Selim Bescheid und
getröstet oder voll neuer, tiefer Gedanken war noch Zeder von
ihm gegangen. Eines Tages kam sogar ein Abendländer aus
dem Reiche der europäischen Mitte, dessen Bewohner schon seit
Hunderten von Jahren im Rufe großer Klugheit und Gelehr-
samkeit stehen. Der Fremde unterhielt sich lange mit Selim
und beide fanden aneinander
großen Gefallen. Waren
Selim auch die Lebens-
gcwohnheiten des Bolkes im
Abendlande etwas fremd, so
erfaßte sein rascher Geist dock
stets das Richtige, so daß
der Abendländer immer mehr
sein Herz ausschüttete. Gab
eS in seiner Heiinat doch ge-
nug des Unangenehme»,
Sorge und Kummer. Selim
aber wußte für alles Rak-
lchläge und Trost. Da er-
zählte der Fremde zum
NGSLOS
Schluß: „Vieles habe ich dir nun berichtet, o weiser Selim,
nun lasse dir einen ganz ernsten Fall darlegen! Stelle dir vor,
daß du tagsüber zur Arbeit jahrelang mit den gleichen Men-
schen, oft in einem Raum, beisammen bist! Jedesmal, wenn du
aufblickst, hast du ihre Gesichter vor dir. Du mußt mit ihnen
arbeiten. Tag für Tag, Jahr für Jahr, du ergraust und siehst
sie grau werden. Run glaubst du vielleicht, daß mit der Zeit ein
freundschastliches Verhältnis entsteht, daß man gegenseitig sich
hilft und unterstützt. Aber weit gefehlt! Rach zehn, zwanzig
Jahren stehst du ihnen noch genau so fremd gegenüber, wie in
den ersten Wochen, so sehr du dich auch bemübst, ihre Freund-
schaft zu gewinnen. Freude über dein Wohlergehen kennen sie
nicht, aber wenn es dir einmal schlecht geht, dann frohlocken sie
und wünschen dir nocb mehr Unglück. Könnten sie, wie sie woll-
ten, sie würden dich vernich-
ten, umso lieber, je länger du
mit ihnen beisammen warst.'
— „Hör' auf, Fremder",
unterbrach ihn Selim, „ist es
möglich, daß es solcke Leute
bei euch gibt, die ihre Mit-
menschen im Laufe der Zeit
immer mehr hassen? Ihr
seid wirklich zu bedauern.
Sag', was sind das für
Menschen?" — Dumpf ant-
wortete der andere: „Kolle-
gen." — Selim verhüllte sein
Haupt. R. Mtltenberger
/V o r d i ( d e. A4 e n f d
e n
Sie gehen Ichweigend durch ihre Tage
[Jnd nehmen ihr Lehen ohne Frage.
Sie lagen alle: wir kennen uns nicht.
Und! Irvätcr reden aus ihrem Geficht.
Jn dem blauen Blick Ltirbt urewiges Leid,
Der Tod und die Taten der Heldenzeit.
Sie nehmen die Trauer ohne zu klagen,
Sie nehmen die treude ohne zu fragen.
Rolf Gras h ey
Sie Lehen den Schatten in Lichtes Pracht,
Umlage die flacht und den Tagin derNacht.
Sie Lehen die Ruhe in WechLels Lauf.
Aus dem Leid blüht ihnen das Wunder auf
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Der weise Selim lebte einsam am Rande der Wüste. Tage-
lang hörte er oft keinen anderen Laut als das leise Singen des
Sandes, wenn die letzten Ausläufer des Samums vorüber-
zogen — oder nachts das Heulen der Schakale, wenn sie hungrig
nach Rahrung suchten. Doch blieb des Einsamen Ruhe nicht
immer ungestört. Der Ruf seiner Weisheit hatte sich in der
nicht allzu fernen Stadt verbreitet und gar mancher kam, ent-
weder um seinen Rat zu erbitten, oder ernste, inhaltsreiche Ge-
spräche mit ihm zu führen. Allen gab Selim Bescheid und
getröstet oder voll neuer, tiefer Gedanken war noch Zeder von
ihm gegangen. Eines Tages kam sogar ein Abendländer aus
dem Reiche der europäischen Mitte, dessen Bewohner schon seit
Hunderten von Jahren im Rufe großer Klugheit und Gelehr-
samkeit stehen. Der Fremde unterhielt sich lange mit Selim
und beide fanden aneinander
großen Gefallen. Waren
Selim auch die Lebens-
gcwohnheiten des Bolkes im
Abendlande etwas fremd, so
erfaßte sein rascher Geist dock
stets das Richtige, so daß
der Abendländer immer mehr
sein Herz ausschüttete. Gab
eS in seiner Heiinat doch ge-
nug des Unangenehme»,
Sorge und Kummer. Selim
aber wußte für alles Rak-
lchläge und Trost. Da er-
zählte der Fremde zum
NGSLOS
Schluß: „Vieles habe ich dir nun berichtet, o weiser Selim,
nun lasse dir einen ganz ernsten Fall darlegen! Stelle dir vor,
daß du tagsüber zur Arbeit jahrelang mit den gleichen Men-
schen, oft in einem Raum, beisammen bist! Jedesmal, wenn du
aufblickst, hast du ihre Gesichter vor dir. Du mußt mit ihnen
arbeiten. Tag für Tag, Jahr für Jahr, du ergraust und siehst
sie grau werden. Run glaubst du vielleicht, daß mit der Zeit ein
freundschastliches Verhältnis entsteht, daß man gegenseitig sich
hilft und unterstützt. Aber weit gefehlt! Rach zehn, zwanzig
Jahren stehst du ihnen noch genau so fremd gegenüber, wie in
den ersten Wochen, so sehr du dich auch bemübst, ihre Freund-
schaft zu gewinnen. Freude über dein Wohlergehen kennen sie
nicht, aber wenn es dir einmal schlecht geht, dann frohlocken sie
und wünschen dir nocb mehr Unglück. Könnten sie, wie sie woll-
ten, sie würden dich vernich-
ten, umso lieber, je länger du
mit ihnen beisammen warst.'
— „Hör' auf, Fremder",
unterbrach ihn Selim, „ist es
möglich, daß es solcke Leute
bei euch gibt, die ihre Mit-
menschen im Laufe der Zeit
immer mehr hassen? Ihr
seid wirklich zu bedauern.
Sag', was sind das für
Menschen?" — Dumpf ant-
wortete der andere: „Kolle-
gen." — Selim verhüllte sein
Haupt. R. Mtltenberger
/V o r d i ( d e. A4 e n f d
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Sie gehen Ichweigend durch ihre Tage
[Jnd nehmen ihr Lehen ohne Frage.
Sie lagen alle: wir kennen uns nicht.
Und! Irvätcr reden aus ihrem Geficht.
Jn dem blauen Blick Ltirbt urewiges Leid,
Der Tod und die Taten der Heldenzeit.
Sie nehmen die Trauer ohne zu klagen,
Sie nehmen die treude ohne zu fragen.
Rolf Gras h ey
Sie Lehen den Schatten in Lichtes Pracht,
Umlage die flacht und den Tagin derNacht.
Sie Lehen die Ruhe in WechLels Lauf.
Aus dem Leid blüht ihnen das Wunder auf
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Werk/Gegenstand/Objekt
Pool: UB Fliegende Blätter
Titel
Titel/Objekt
"Hoffnungslos"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Fliegende Blätter
Sachbegriff/Objekttyp
Inschrift/Wasserzeichen
Aufbewahrung/Standort
Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Inv. Nr./Signatur
G 5442-2 Folio RES
Objektbeschreibung
Maß-/Formatangaben
Auflage/Druckzustand
Werktitel/Werkverzeichnis
Herstellung/Entstehung
Künstler/Urheber/Hersteller (GND)
Entstehungsdatum
um 1926
Entstehungsdatum (normiert)
1921 - 1931
Entstehungsort (GND)
Auftrag
Publikation
Fund/Ausgrabung
Provenienz
Restaurierung
Sammlung Eingang
Ausstellung
Bearbeitung/Umgestaltung
Thema/Bildinhalt
Thema/Bildinhalt (GND)
Literaturangabe
Rechte am Objekt
Aufnahmen/Reproduktionen
Künstler/Urheber (GND)
Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
In Copyright (InC) / Urheberrechtsschutz
Creditline
Fliegende Blätter, 164.1926, Nr. 4203, S. 91
Beziehungen
Erschließung
Lizenz
CC0 1.0 Public Domain Dedication
Rechteinhaber
Universitätsbibliothek Heidelberg