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„X 100."

Diekleine Kon-
ditorei mit den ver-
schoffenen Plüsch-
möbeln, den blin-
den, mit schwarzen
Pünktchen besäten
Goldrahmen der
Spiegel, durch die
man so gute Beob-
achtungen machen
konnte, den dicht verhängten Fensterscheiben, dem würzigsüßen Duft des
Kaffees und der Backwaren war den Menschen da draußen in der großen
Stadt nicht so bekannt, wie es die Vortrefflichkeit der Ware, die immer
freundliche Bedienung gerechtfertigt hätten. Aber die Kundschaft, die
dort täglich die drei kleinen Zimmer füllte, war eine treue, nicht zu ver-
treibende Stammkundschaft. Und das genügte dem Besitzer vollkommen.

Draußen wirbelte der Schnee, und seine Decke, die bald alles ein-
hüllte und die Geräusche der Straße dämpfte, warf ein seltsam Helles
Licht über die weißen Marmortische. Blauer Tabakduft schwebte zur
Decke, leise klirrten die Löffelchen auf dem Porzellan.

Es war so ein rechter, gemütlicher Kaffeehausnachmittag. Weihnachten
stand vor der Tür, der festliche Schimmer der
Weihnachtskerzen schien schon heute von fernher
in die Herzen zu strahlen, und die Erwartung
des Festes stimmte die Menschen versöhnlicher,
gütiger.

In einer Ecke am Fenster saß die blonde
Dore Wendelin, ließ die blauen, blanken Augen
zu den Tischchen wandern, und sie war äußerlich
ganz ruhig, obgleich eine große Erwartung ihr
Herz laut schlagen ließ. Sie stand vor ihrem
ersten Rendezvous, und das war für ihre sieb-
zehn Jahre schon allerhand. Bei jedem Läuten
der Türglocke,-es war eine recht alte, heisere,
grämliche Glocke, - blickte sie nach der Wollportiere, und immer wandte
sie sich enttäuscht ihrer Apfeltorte mit Schlagsahne zu, die heute gar kein
Ende nehmen wollte.

Wie war es doch gewesen?

Im Blatt hatte eine Anzeige gestanden:

„Die junge, blonde Dame im hellgrauen Kostüm, die am Mittwoch
abend im Schalterraum des Postamts sich aufhielt, wird gebeten, zwecks
ehrbarster Bekanntschaft unter T 100 postlagernd zu schreiben."

Das war s ie gewesen. Sie hatte an dem Abend für den Vater eine
Einzahlung gemacht, sie hatte damals ein graues Kostüm getragen, sie
hatte blondes Haar.

Und der Wunsch, nun doch auch einmal ein harmloses Abenteuer zu
erleben, - sie war doch schon Siebzehn! — hatte sie antworten laffen.
Zu einer Bekanntschaft hätte der Verfaffer der Anzeige Gelegenheit in
der Schaumbergerschen Konditorei am Montag nachmittag um 4 Uhr.

Worauf ein Schreiben eingegangen war, in dem mit einer Hand-
schrift, wie gestochen, zu lesen war:

„Im Besitz Ihre« Allerwertesten teile ich Ihnen mit, daß ich mich
cinstellen werde. Als Erkennungszeichen schlage ich beiderseits eine
rote Nelke vor. X 100."

Das war auf ein weißes Quartblatt geschrieben, klang nicht gerade
sehr poetisch, aber — welche Fülle süßer Romantik, zarter Ritterlichkeit
mochte sich hinter den nüchternen Zeilen verbergen, die der Absender
vielleicht absichtlich so trocken und undurchsichtig gehalten hatte! Und
zwischen den hektographentintenglänzenden Buchstaben tauchte ein frischer,

lachender Iünglingskopf auf, mit einem flotten Bärtchen oder auch
keinem, sportbrauner Gesichtsfarbe und schneeweißen Zähnen, ein ranker,
lieber Mann ....

Sie sah ihn vor sich, ihren Ritter, im tadellos sitzenden Anzug, schnei-
dig und herzgewinnend, mit guten Manieren, etwas schüchtern, aber
doch heiß werbend, einen rechten Kavalier!

Ein Seufzerchen flatterte von ihrem Mund in den Raum, sie war
halbkrank vor freudiger Erwartung, süßer Spannung, und drehte ge-
dankenvoll die wundervolle, rote Nelke, die auf ihrem Iuchtentäschchen
lag, zwischen den Fingern.

Eben hatte der alte, fleckige Regulator schnarrend vier Uhr geschlagen.

Da — da schritt durch die niedrige, weiße Tür ein Mann, nein ein
Monstrum! Der Schädel blank wie ein messingener Korridorknopf, die
Nase rot und glänzend, wie aus einem Gummigesicht herausgeblasen,
auf ihr eine Nickelbrille, ein stachliches Kinnbärtchen, das sich sträubte
wie ein Borstenbesen, und der Anzug.

Ein dunkler, mild glänzender Rock bis zu den Knien, Spiralhosen,
die sich müde zu den breiten Stiefeln hinabfältelten, — ein komplettes
Scheusal.

Und dieser Mann hielt in der Hand eine rote Nelke!

Er hängtc ein speckiges Hütchen an den Haken und nahm eine Tasche
unterm Arm hervor.

Dore wollte rasch ihre Blume verbergen, aber
er hatte sie längst gesehen uud nickte vertraulich
herüber. Schmunzelnd trat er an den Tisch und
schlug mit dem Fuß nach hinten aus:

„Zinnober is main Name, Natan Zinnober,
main Frailain. Sie sind die Dame, wo gehabt
hat die Giete, ffu antworten auf meinen Vor-
schlag?"

Dore war Stein. Sie konnte sich nicht regen,
sprechen schon gar nicht. Statt einer Zunge
schien sie einen Pelzfleck im Mund zu haben.
Der Kellner trat näher.

„E klaineS Gläschen Waffer - Kaffee regt mehr ffu sehr auf," be-
stellte der Alte. Dore stieg die Röte bis hinter beide Ohren.

Das also war ihr Kavalier! Dieser rote Nelkcrich!

Zinnober schien doch zu merken, daß er gerade keinen hervorragenden
Eindruck auf dieses feine, zierliche Mädchen machte, schmatzte ein wenig
am Waffer, das der Kellner hingestellt hatte, rieb sich die Hände, als
ob er eben eine Kuh gut verkauft hätte, zog die Schultern hoch und
stellte den Kopf schief:

„Frailein, Se schainen ffu sain ein wenig enttäuscht, daß gekommen
is ein alter Mann und kein Springinsfeld. Ich will Se klären auf,
worüm ich so ffu sagen auf die alten Tage noch geh auf Freiersfüßen."

Er kicherte stillvergnügt in sich hinein und machte ein pfiffiges Gesicht.

„Die Welt is geworden modern, und wer nicht wird modern mit der
Welt, der kommt
ffurück. Ich Hab e
Geschäft, e faines,
klaines Geschäftche,

»aber «S iS still ge-
worden in verletzten
Zait, und Geld für
großmächtige Inse-
rate hat der Natan
Zinnober nicht. Al-
so, Hab ich mer ge-


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Bildbeschreibung

Werk/Gegenstand/Objekt

Titel

Titel/Objekt
"X 100"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Fliegende Blätter
Sachbegriff/Objekttyp
Grafik

Inschrift/Wasserzeichen

Aufbewahrung/Standort

Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Universitätsbibliothek Heidelberg
Inv. Nr./Signatur
G 5442-2 Folio RES

Objektbeschreibung

Maß-/Formatangaben

Auflage/Druckzustand

Werktitel/Werkverzeichnis

Herstellung/Entstehung

Künstler/Urheber/Hersteller (GND)
Storch, Carl
Entstehungsdatum
um 1926
Entstehungsdatum (normiert)
1921 - 1931
Entstehungsort (GND)
München

Auftrag

Publikation

Fund/Ausgrabung

Provenienz

Restaurierung

Sammlung Eingang

Ausstellung

Bearbeitung/Umgestaltung

Thema/Bildinhalt

Thema/Bildinhalt (GND)
Karikatur
Satirische Zeitschrift

Literaturangabe

Rechte am Objekt

Aufnahmen/Reproduktionen

Künstler/Urheber (GND)
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Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
In Copyright (InC) / Urheberrechtsschutz
Creditline
Fliegende Blätter, 165.1926, Nr. 4247, S. 308

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CC0 1.0 Public Domain Dedication
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