sich. Schauen S' ihn nur selber an!" Jetzt wurden die beiden anderen
auch ernst. „Da hat unsere Untersuchung gar keinen Wert," meinten
sie und ergriffen sofort die nötigen Maßregeln. Der Lehrer eilte zum
Doktor, der Posthalter schickte seine LieSl
zum Herrn Pfarrer, während er selbst
zum Bürgermeister lief. Den unheim-
lichen Paffagier zu besichtigen oder gar
anzurühren hütete sich einstweilen jeder.
Es war ein glückliches Zusammentreffen,
daß Doktor und Pfarrer gleichzeitig in
den Hof traten und daß im selben Augen-
blick der Bader Siebenhaar vorbeikam,
der zur Hilfeleistung beigezogen wurde.
Auch der Bürgermeister traf ein und nach
kurzer Beratung beschloß man, zunächst
den Körper aus dem Wagen zu schaffen,
worauf der Doktor feststellen sollte, ob
noch eine Spur von Leben vorhanden sei. In diesem Fall wollte ihm
der Herr Pfarrer die letzten Tröstungen angedeihen laffen. Andernfalls
müsse eben der eingetretene Tod ärztlich feftgestellt, amtlich protokolliert
und schließlich, falls der Mann an einer ansteckenden Seuche gestorben,
der Omnibus entsprechend gelüftet und, wie der Posthalter dringend
riet, „desinfexiert" werden.
Nach diesem Beschluß der Kommission stieg der Bader in den Wagen,
um den Körper herauszuschieben. Kaum war
er jedoch eingedrungen, als er in ein lautes
Gelächter ausbrach. „Donnerwetter, Sieben-
Haar, Mensch, was fällt Ihnen ein?" fuhr
der Doktor los und der Herr Pfarrer meinte
höchst unwillig: „Laffen Sie doch Ihr un-
gebührliches Lachen im Angesichte des To ..."
Aber der Bader lachte beide nieder und rief:
„Grüß dich Gott, Petrus, ja wie kommst denn
du da herein?" Und indem er heraustrat,
forderte er die Kommiffion auf, sich den toten Fahrgast selbst anzusehen
— da saß auf den tief eingedrückten Samtpolstern des Kgl. Bayer. Post-
wagens die Steinfigur des heiligen Petrus vom Olberg an der Hoppels-
heimerKirche: in langem, schwerem Mantel, den schlafmüden, von einem
alten Filzhut bedeckten Kopf auf das Schwert gestützt, unbeweglich und
unerschütterlich, stumm und kalt, ganz wie er sich den freundlichen und
energischen Reden und Stößen des Postillons gegenüber verhalten hatte.
„Himmel, Herrgott, Sakr ... des hat kein anderer ang'stift't wie
der Schorsch von Hoppelsheim, der Lump, der elendige!" schrie der
Peter. Die ganze Gesellschaft aber brach in ein schallendes Gelächter
aus und dann ergoß sich eine Flut von Fragen und Vorstellungen über
den armen Rollhofer. „Ja, Mensch,
hören und sehen Sie den» nicht mehr,
daß Sie uns zu so einer Komödie zusam-
menrufen?" wetterte der Doktor. „Die-
sen Leuten ist schon gar nichts mehr
heilig," jammerte der Herr Pfarrer.
Der Posthalter brummte schmunzelnd:
„Er hat halt a paar SchnäpS zuviel er-
wischt; so was sollt freilich einem alten
Postillon nicht passieren." „Pensions-
reif!" bemerkte kurz und boshaft der Lehrer
Fiedler, „Fährt der Kerl den heiligen
Petrus spazieren!"
Jedoch all diese Verwunderung und
Entrüstung half nicht über die Tatsache hinweg, daß dieser heilige
Mann von der HoppelSheimer Kirche zur Zeit vor dem Gasthaus „Zur
Post" in Neustedt saß. Und ebensowenig konnte man sich der Einsicht
verschließen, daß er mit möglichster Beschleunigung an seinen alten
Standort zurückbefördert werden müffe. Es gab dazu kein einfacheres
und rascheres Mittel, als daß er wieder
in der Kgl. Postkutsche per Freifahrt heim-
reiste. Wohl oder übel mußte sich unser
Peter Rollhofer dazu verstehen und zwei
Stunden später fuhr er seinen toten Pas-
sagier abermals über das holperige Pflaster
des Städtchens hinaus. Zum Glück hatte [f ,
sich auch diesmal kein lebendiger Fahrgast
gemeldet. In Hoppelsheim war der Post-
vorstand bereits telephonisch von dem Ein-
treffen des hochseligen Herrn unterrichtet;
ganz zufällig aber hatten sich auch der
Schorsch und der Waftl mit einem kleinen Gefolge eingefunden. Bald
saß der heilige Mann wieder in seiner Steinnische vor der Kirche und
hat seitdem keine Postfahrt mehr unternommen.
Der Peter Rollhoser kutschierte noch oft an der Hoppelsheimer
Kirche vorbei. Aber stets warf er einen mißtrauischen Blick zu den
steinernen Jüngern hinüber und immer kam 's ihm seit diesem Erleb-
nis vor, als spiele ein vertrauliches, spöttisches Lächeln um die Züge
seines alten kahlköpfigen Namenspatrons. K-nr-d Kup,»
SOMMERFRISCHE
Jeder grüne, umbuschte Winkel, den du irgendwo in der Natur ergattert,
wird dir prompt von Motorrädern — hintendrauf ein dickes Weib — zerrattert.
Allüberall, wo du glaubst in ländlicher, köstlichster Stille zu sein,
kehren lärmende, prahlende, aufschnittkrähende Schreier ein
und glauben, die weite Natur sei erst lauschig, ideal und wahrhaft schön
unter ihrem barbarischen wüsten Großstadtjargon und Großstadtgeklöhn.
Aber die Bäume, die Bäche, die Brunnen rauschen: Gott soll uns bewahren
vor dem Odem der übermodernen und alleszerautelnden Tataren!
Und die Kühe, das sind die gescheitesten, überlegtestew Leute,
zeigen dem ganzen, krachenden, lärmenden Großstadtrummel — die
Auspuffseite!
Josef Stollreiter
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auch ernst. „Da hat unsere Untersuchung gar keinen Wert," meinten
sie und ergriffen sofort die nötigen Maßregeln. Der Lehrer eilte zum
Doktor, der Posthalter schickte seine LieSl
zum Herrn Pfarrer, während er selbst
zum Bürgermeister lief. Den unheim-
lichen Paffagier zu besichtigen oder gar
anzurühren hütete sich einstweilen jeder.
Es war ein glückliches Zusammentreffen,
daß Doktor und Pfarrer gleichzeitig in
den Hof traten und daß im selben Augen-
blick der Bader Siebenhaar vorbeikam,
der zur Hilfeleistung beigezogen wurde.
Auch der Bürgermeister traf ein und nach
kurzer Beratung beschloß man, zunächst
den Körper aus dem Wagen zu schaffen,
worauf der Doktor feststellen sollte, ob
noch eine Spur von Leben vorhanden sei. In diesem Fall wollte ihm
der Herr Pfarrer die letzten Tröstungen angedeihen laffen. Andernfalls
müsse eben der eingetretene Tod ärztlich feftgestellt, amtlich protokolliert
und schließlich, falls der Mann an einer ansteckenden Seuche gestorben,
der Omnibus entsprechend gelüftet und, wie der Posthalter dringend
riet, „desinfexiert" werden.
Nach diesem Beschluß der Kommission stieg der Bader in den Wagen,
um den Körper herauszuschieben. Kaum war
er jedoch eingedrungen, als er in ein lautes
Gelächter ausbrach. „Donnerwetter, Sieben-
Haar, Mensch, was fällt Ihnen ein?" fuhr
der Doktor los und der Herr Pfarrer meinte
höchst unwillig: „Laffen Sie doch Ihr un-
gebührliches Lachen im Angesichte des To ..."
Aber der Bader lachte beide nieder und rief:
„Grüß dich Gott, Petrus, ja wie kommst denn
du da herein?" Und indem er heraustrat,
forderte er die Kommiffion auf, sich den toten Fahrgast selbst anzusehen
— da saß auf den tief eingedrückten Samtpolstern des Kgl. Bayer. Post-
wagens die Steinfigur des heiligen Petrus vom Olberg an der Hoppels-
heimerKirche: in langem, schwerem Mantel, den schlafmüden, von einem
alten Filzhut bedeckten Kopf auf das Schwert gestützt, unbeweglich und
unerschütterlich, stumm und kalt, ganz wie er sich den freundlichen und
energischen Reden und Stößen des Postillons gegenüber verhalten hatte.
„Himmel, Herrgott, Sakr ... des hat kein anderer ang'stift't wie
der Schorsch von Hoppelsheim, der Lump, der elendige!" schrie der
Peter. Die ganze Gesellschaft aber brach in ein schallendes Gelächter
aus und dann ergoß sich eine Flut von Fragen und Vorstellungen über
den armen Rollhofer. „Ja, Mensch,
hören und sehen Sie den» nicht mehr,
daß Sie uns zu so einer Komödie zusam-
menrufen?" wetterte der Doktor. „Die-
sen Leuten ist schon gar nichts mehr
heilig," jammerte der Herr Pfarrer.
Der Posthalter brummte schmunzelnd:
„Er hat halt a paar SchnäpS zuviel er-
wischt; so was sollt freilich einem alten
Postillon nicht passieren." „Pensions-
reif!" bemerkte kurz und boshaft der Lehrer
Fiedler, „Fährt der Kerl den heiligen
Petrus spazieren!"
Jedoch all diese Verwunderung und
Entrüstung half nicht über die Tatsache hinweg, daß dieser heilige
Mann von der HoppelSheimer Kirche zur Zeit vor dem Gasthaus „Zur
Post" in Neustedt saß. Und ebensowenig konnte man sich der Einsicht
verschließen, daß er mit möglichster Beschleunigung an seinen alten
Standort zurückbefördert werden müffe. Es gab dazu kein einfacheres
und rascheres Mittel, als daß er wieder
in der Kgl. Postkutsche per Freifahrt heim-
reiste. Wohl oder übel mußte sich unser
Peter Rollhofer dazu verstehen und zwei
Stunden später fuhr er seinen toten Pas-
sagier abermals über das holperige Pflaster
des Städtchens hinaus. Zum Glück hatte [f ,
sich auch diesmal kein lebendiger Fahrgast
gemeldet. In Hoppelsheim war der Post-
vorstand bereits telephonisch von dem Ein-
treffen des hochseligen Herrn unterrichtet;
ganz zufällig aber hatten sich auch der
Schorsch und der Waftl mit einem kleinen Gefolge eingefunden. Bald
saß der heilige Mann wieder in seiner Steinnische vor der Kirche und
hat seitdem keine Postfahrt mehr unternommen.
Der Peter Rollhoser kutschierte noch oft an der Hoppelsheimer
Kirche vorbei. Aber stets warf er einen mißtrauischen Blick zu den
steinernen Jüngern hinüber und immer kam 's ihm seit diesem Erleb-
nis vor, als spiele ein vertrauliches, spöttisches Lächeln um die Züge
seines alten kahlköpfigen Namenspatrons. K-nr-d Kup,»
SOMMERFRISCHE
Jeder grüne, umbuschte Winkel, den du irgendwo in der Natur ergattert,
wird dir prompt von Motorrädern — hintendrauf ein dickes Weib — zerrattert.
Allüberall, wo du glaubst in ländlicher, köstlichster Stille zu sein,
kehren lärmende, prahlende, aufschnittkrähende Schreier ein
und glauben, die weite Natur sei erst lauschig, ideal und wahrhaft schön
unter ihrem barbarischen wüsten Großstadtjargon und Großstadtgeklöhn.
Aber die Bäume, die Bäche, die Brunnen rauschen: Gott soll uns bewahren
vor dem Odem der übermodernen und alleszerautelnden Tataren!
Und die Kühe, das sind die gescheitesten, überlegtestew Leute,
zeigen dem ganzen, krachenden, lärmenden Großstadtrummel — die
Auspuffseite!
Josef Stollreiter
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Werk/Gegenstand/Objekt
Pool: UB Fliegende Blätter
Titel
Titel/Objekt
"Der tote Passagier"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Fliegende Blätter
Sachbegriff/Objekttyp
Inschrift/Wasserzeichen
Aufbewahrung/Standort
Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Inv. Nr./Signatur
G 5442-2 Folio RES
Objektbeschreibung
Maß-/Formatangaben
Auflage/Druckzustand
Werktitel/Werkverzeichnis
Herstellung/Entstehung
Künstler/Urheber/Hersteller (GND)
Entstehungsdatum
um 1927
Entstehungsdatum (normiert)
1922 - 1932
Entstehungsort (GND)
Auftrag
Publikation
Fund/Ausgrabung
Provenienz
Restaurierung
Sammlung Eingang
Ausstellung
Bearbeitung/Umgestaltung
Thema/Bildinhalt
Thema/Bildinhalt (GND)
Literaturangabe
Rechte am Objekt
Aufnahmen/Reproduktionen
Künstler/Urheber (GND)
Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
In Copyright (InC) / Urheberrechtsschutz
Creditline
Fliegende Blätter, 167.1927, Nr. 4280, S. 75
Beziehungen
Erschließung
Lizenz
CC0 1.0 Public Domain Dedication
Rechteinhaber
Universitätsbibliothek Heidelberg