Emil, der lebende Beweis
Von
Frau Zinke hatte einen Mann. Der hatte sechs Geschwister. Ein
Bruder davon hatte vier Kinder. Eins davon hieß Emil. Emil aber
ist das Kind der Handlung. Dies als Einleitung und als Beitrag
zur Familienforschung.
Sofort nach Emils Geburt raste der Vater aufs Standesamt,
dann zur Zeitung zur Aufgabe der Freudenbotschaft „statt jeder be-
sonderen Meldung." Dann ging er zum Astrologen. Der nahm die
Daten entgegen, fragte: „Bub oder Mädel?" Der Vater war be-
leidigt: „Erlauben Sie mal — selbstverständlich ..." - „Ein
Bub", fiel der Astrologe ein, „es kostet fünf Mark fünfzig."
Nach drei Tagen kam das Horoskop Emils. Viel verhieß es: Aus-
stieg zur Größe, eine reiche Frau, ein tiefes Gemüt; aber auch —
sadistische Neigungen. Der Vater verschloß es. Und Emil wuchs, wie
Spargel wachsen. Erst fast gar nicht, dann schoß er. Sein Kops war
grün wie geschossener Spargel. Aber Leben war drin. Zu viel Leben
fast für ein gut bürgerliches Haus. Denn als Emil einen Hand-
werkskasten erbalten batte, schlug er sämtliche Nägel in dasSitzbrett
des W. C. Es gab gequälte Herzen in der Familie einen Nachmittag
lang. Emil erhielt eine Tracht Przigel und der Vater schwitzte stun-
denlang mit der Zange in den Fäusten, um das W. C. wieder be-
triebsfähig zu machen.
Als er den Astrologen auf der Straße traf, entspann stch folgendes
Zwiegespräch: „Na, was macht Emil?"
„Sie haben leider Recht gehabt."
Der Astrologe lächelte geschmeichelt. Danach lachte er über Emils
Streiche und tröstete: „Die Sterne machen nur geneigt, sie zwingen
nicht. Emil hat es in der Hand."
„Um Verzeihung," sagte der Vater, „was hat er in der Hand?"
„Das Schicksal." Krebsrot brüllte der Vater: „Das sehe ich!" und
stob davon. Aber von nun an war er Philosoph. Bei jeder neuen
I b y k u »
Dummheit Emils fragte er sich: War das nur wieder Geneigtheit
oder doch vielleicht Zwang? Er kam aber jedesmal zu dem Beschluß,
Emil auf alle Fälle zu verhauen, sodaß Emil gewissermaßen unter
der Gemeinheit seines Schicksals blutete. Aber unbekümmert wachsen
die Spargel, und Emil auch. Leider und unverkennbar auch seine
sadistische Geneigtheit.
Die Großmutter liebte es, nach Tisch zu schlafen, und nahm Emil,
ihren Liebling, gern mit in ihr Zimmer, damit er mit ihr der Ruhe
pflege. Einmal trug sie ihren Nachtisch, ein Stück Torte, mit zittern-
der Hand in ihr Zimmer, legte eö auf den Tisch und sagte: „Emil-
chen, daS essen wir zusammen nach dem Schlafen," und legte sich hin
und schlief ein. Emil war nicht für Schlafen. Erfühlte Geneigtheit
und fraß die Torte auf. Das versteht man. Aber jetzt kommt das
Diabolische: er weckte die Großmutter und sagte
liebreich: „Großmutter, nu kannst du aufstehen,
die Torte ist alle."
Diesmal blieb er straffrei: des Vaters Zorn
ergoß sich über die Großmutter, die nach seiner
Meinung den Jungen direkt zum Verbrecher er-
zog, worauf das gekränkte Großmutterherz sich
sogleich wieder Emil öffnete. Der wunderte sich
garnicht. Das sah der Großmutter ähnlich. Leider
gab es nicht wieder Torte.
Er hatte überhaupt merkwürdige Auffassungen
über gesellschaftliche Pflichten. So kommt er eines
Nachmittags nach Hause und erzählt, er habe den
Onkel Rektor getroffen. Die Mutter fragt, der
Antwort gewiß: „Hast du auch schön die Mütze
abgenommen?" — Emil: „Nee."
Die Mutter fassungslos: „Ja, aber um alles
in der Welt, warum denn nicht?"
Darauf Emils Baß: „Er nahm seinen Hut
auch nicht ab." Der Rechtsbelehrung der Mutter
brachte er nicht das geringste Verständnis ent-
gegen. Es wurde eben immer klarer, daß die
Sterne ihn nicht geneigt machten, das zu tun,
was ein braves Kind zu tun hat. Emil wühlte
den ganzen Tag im Garten herum, offengestanden: am liebsten im
Dreck, und man wußte meistens nicht, was vorne oder hinten bei ihm
war, was Hose oder Hände waren. Und die Schule war ihm «in
Ärgernis. Er war immer in Gedanken, nur nicht in den pädagogisch
vorgeschriebenen. Plötzlich fragt ihn der Lehrer: „Na, Emil, was
denkst du jetzt?"
Empört über die Störung antwortet er: „Ich denke garnichts. In
der Schule ruhe ich mich aus. Zu Hause muß ich in meinem Garten
arbeiten." Diese Antwort, schulmäßig gesühnt, dem Vater mitge-
teilt, hielt dieser sür Sternenzwang. Denn so was konnte nicht seines
Blutes sein.
Grausam nahm die Zwingherrschafl der Sterne zu. Emil
schlachtet den Stolz der Kinderstube, das mit echtem Fell bezogene
Schaukelpferd, und macht Gänseklein davon. Er veranstaltete ein
Blutbad unter seinen Zinnsoldaten, indem er sie alle ohne Ausnahme
köpfte. Dann fuhr er mit seinem lebendigen Kopf durch das geschlos-
sene Bodenfenster und lief unter die Wasserleitung, das strömende
Straßenarbeiter
„Was brauch» mir no an Streik? An Verkehr leg'n mir ja so wie so die ganz Zeit still."
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Von
Frau Zinke hatte einen Mann. Der hatte sechs Geschwister. Ein
Bruder davon hatte vier Kinder. Eins davon hieß Emil. Emil aber
ist das Kind der Handlung. Dies als Einleitung und als Beitrag
zur Familienforschung.
Sofort nach Emils Geburt raste der Vater aufs Standesamt,
dann zur Zeitung zur Aufgabe der Freudenbotschaft „statt jeder be-
sonderen Meldung." Dann ging er zum Astrologen. Der nahm die
Daten entgegen, fragte: „Bub oder Mädel?" Der Vater war be-
leidigt: „Erlauben Sie mal — selbstverständlich ..." - „Ein
Bub", fiel der Astrologe ein, „es kostet fünf Mark fünfzig."
Nach drei Tagen kam das Horoskop Emils. Viel verhieß es: Aus-
stieg zur Größe, eine reiche Frau, ein tiefes Gemüt; aber auch —
sadistische Neigungen. Der Vater verschloß es. Und Emil wuchs, wie
Spargel wachsen. Erst fast gar nicht, dann schoß er. Sein Kops war
grün wie geschossener Spargel. Aber Leben war drin. Zu viel Leben
fast für ein gut bürgerliches Haus. Denn als Emil einen Hand-
werkskasten erbalten batte, schlug er sämtliche Nägel in dasSitzbrett
des W. C. Es gab gequälte Herzen in der Familie einen Nachmittag
lang. Emil erhielt eine Tracht Przigel und der Vater schwitzte stun-
denlang mit der Zange in den Fäusten, um das W. C. wieder be-
triebsfähig zu machen.
Als er den Astrologen auf der Straße traf, entspann stch folgendes
Zwiegespräch: „Na, was macht Emil?"
„Sie haben leider Recht gehabt."
Der Astrologe lächelte geschmeichelt. Danach lachte er über Emils
Streiche und tröstete: „Die Sterne machen nur geneigt, sie zwingen
nicht. Emil hat es in der Hand."
„Um Verzeihung," sagte der Vater, „was hat er in der Hand?"
„Das Schicksal." Krebsrot brüllte der Vater: „Das sehe ich!" und
stob davon. Aber von nun an war er Philosoph. Bei jeder neuen
I b y k u »
Dummheit Emils fragte er sich: War das nur wieder Geneigtheit
oder doch vielleicht Zwang? Er kam aber jedesmal zu dem Beschluß,
Emil auf alle Fälle zu verhauen, sodaß Emil gewissermaßen unter
der Gemeinheit seines Schicksals blutete. Aber unbekümmert wachsen
die Spargel, und Emil auch. Leider und unverkennbar auch seine
sadistische Geneigtheit.
Die Großmutter liebte es, nach Tisch zu schlafen, und nahm Emil,
ihren Liebling, gern mit in ihr Zimmer, damit er mit ihr der Ruhe
pflege. Einmal trug sie ihren Nachtisch, ein Stück Torte, mit zittern-
der Hand in ihr Zimmer, legte eö auf den Tisch und sagte: „Emil-
chen, daS essen wir zusammen nach dem Schlafen," und legte sich hin
und schlief ein. Emil war nicht für Schlafen. Erfühlte Geneigtheit
und fraß die Torte auf. Das versteht man. Aber jetzt kommt das
Diabolische: er weckte die Großmutter und sagte
liebreich: „Großmutter, nu kannst du aufstehen,
die Torte ist alle."
Diesmal blieb er straffrei: des Vaters Zorn
ergoß sich über die Großmutter, die nach seiner
Meinung den Jungen direkt zum Verbrecher er-
zog, worauf das gekränkte Großmutterherz sich
sogleich wieder Emil öffnete. Der wunderte sich
garnicht. Das sah der Großmutter ähnlich. Leider
gab es nicht wieder Torte.
Er hatte überhaupt merkwürdige Auffassungen
über gesellschaftliche Pflichten. So kommt er eines
Nachmittags nach Hause und erzählt, er habe den
Onkel Rektor getroffen. Die Mutter fragt, der
Antwort gewiß: „Hast du auch schön die Mütze
abgenommen?" — Emil: „Nee."
Die Mutter fassungslos: „Ja, aber um alles
in der Welt, warum denn nicht?"
Darauf Emils Baß: „Er nahm seinen Hut
auch nicht ab." Der Rechtsbelehrung der Mutter
brachte er nicht das geringste Verständnis ent-
gegen. Es wurde eben immer klarer, daß die
Sterne ihn nicht geneigt machten, das zu tun,
was ein braves Kind zu tun hat. Emil wühlte
den ganzen Tag im Garten herum, offengestanden: am liebsten im
Dreck, und man wußte meistens nicht, was vorne oder hinten bei ihm
war, was Hose oder Hände waren. Und die Schule war ihm «in
Ärgernis. Er war immer in Gedanken, nur nicht in den pädagogisch
vorgeschriebenen. Plötzlich fragt ihn der Lehrer: „Na, Emil, was
denkst du jetzt?"
Empört über die Störung antwortet er: „Ich denke garnichts. In
der Schule ruhe ich mich aus. Zu Hause muß ich in meinem Garten
arbeiten." Diese Antwort, schulmäßig gesühnt, dem Vater mitge-
teilt, hielt dieser sür Sternenzwang. Denn so was konnte nicht seines
Blutes sein.
Grausam nahm die Zwingherrschafl der Sterne zu. Emil
schlachtet den Stolz der Kinderstube, das mit echtem Fell bezogene
Schaukelpferd, und macht Gänseklein davon. Er veranstaltete ein
Blutbad unter seinen Zinnsoldaten, indem er sie alle ohne Ausnahme
köpfte. Dann fuhr er mit seinem lebendigen Kopf durch das geschlos-
sene Bodenfenster und lief unter die Wasserleitung, das strömende
Straßenarbeiter
„Was brauch» mir no an Streik? An Verkehr leg'n mir ja so wie so die ganz Zeit still."
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Werk/Gegenstand/Objekt
Pool: UB Fliegende Blätter
Titel
Titel/Objekt
"Straßenarbeiter"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Fliegende Blätter
Sachbegriff/Objekttyp
Inschrift/Wasserzeichen
Aufbewahrung/Standort
Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Inv. Nr./Signatur
G 5442-2 Folio RES
Objektbeschreibung
Maß-/Formatangaben
Auflage/Druckzustand
Werktitel/Werkverzeichnis
Herstellung/Entstehung
Künstler/Urheber/Hersteller (GND)
Entstehungsdatum
um 1928
Entstehungsdatum (normiert)
1923 - 1933
Entstehungsort (GND)
Auftrag
Publikation
Fund/Ausgrabung
Provenienz
Restaurierung
Sammlung Eingang
Ausstellung
Bearbeitung/Umgestaltung
Thema/Bildinhalt
Thema/Bildinhalt (GND)
Literaturangabe
Rechte am Objekt
Aufnahmen/Reproduktionen
Künstler/Urheber (GND)
Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
In Copyright (InC) / Urheberrechtsschutz
Creditline
Fliegende Blätter, 169.1928, Nr. 4336, S. 124
Beziehungen
Erschließung
Lizenz
CC0 1.0 Public Domain Dedication
Rechteinhaber
Universitätsbibliothek Heidelberg