ANSPRUCH
VON JO HANNS ROSLEK
Der Personenzug P 876 bummelte die Schienen entlang. In
einem einsamen Abteil saß ein einzelner Herr. Und las stillvergnügt
seine Zeitung.
Plötzlich öffnete sich die Tür. Ein Mann trat ein. „Schönen
guten Abend wünsche ich", sagte er. — „Tag", dankte kurz der
Herr in der Ecke.
Der Mann breitete sich
wohlgefällig dem Herrn gegen-
über aus und ließ ein vergnüg-
tes Lächeln über seine Backen
und seinen Bauch rollen.
Neugierig guckte er auf die
Zeitung seines Gegenübers.
Aber jener tat nicht dergleichen.
Der Dicke drehte seinen Kopf
>uer, um die Schrift bester
lesen zu können. Er drehte
seinen Kops nach links. Er
drehte seinen Kopf nach rechts.
Er hob ihn, um von oben zu
lesen. Er senkte ihn, um unten
herum etwas zu erfahren. So
ging es fünf Minuten. Dann
ließ er einen tiefen Seufzer
fahren: „Ach ja, heiß ist es
bier!"
Der Andere nahm keine
Notiz davon.
Nach zehn Minuten stöhnt«
der Dicke: „Ach ja, kalt ist es
hier!" - Wieder vergeblich.
Nach fünfzehn Minuten
stöhnte er: „Ja. Ja. Es ist,
wie es ist."
Der Andere las ruhig seine
Zeitung.
Da konnte es der Mann
in der Ecke nicht länger halten
und zupfte an der Zeitung:
„Verzeihen Sie gütigst,
aber -"
Der Andere sah mißmutig
aus.
„Verzeihen Sie vielmals,
aber wobin fahren Sie denn?
— Sie kommen wohl aus
Chemnitz? Kennen Sie dort
nicht einen gewiffen Neu-
mann? — Warte» Sie mal,
wartenstemal,ichmußSie doch
kennen, ich muß Sie doch
schon mal wo gesehen haben?
- Können Sie sich nicht ent-
sinnen?" Der Herr hatte wieder seine Zeitung ausgenommen und
gab keine Antwort. „Sie sind wohl Künstler?" Schweigen.
„Nu nee," rückte der Dicke unruhig hin und her, „vielleicht irre
ich mich. Sie sehen nämlich so aus, als ob Sie Künstler wären.
Oder baden Sie vielleicht in Chemnitz eine Kneipe? Ich kenne nämlich
sehr viele Kneipen in Chem-
nitz." Wieder keine Antwort.
„Vielleicht waren Sie auch
mal — das wird es sein, sehen
Sie, jetzt haben wirs — Sie
waren vor fünf Jahren mal
in Göhren. Wiffen Sie, ich
hatte damals so eine kleine
Dicke bei mir. Wiffen Sie
nicht mehr? So eine kleine
nette Dicke. - Aber nee, das
waren Sie auch nicht. Das
war nämlich ein befferer Herr,
der hat meiner Frieda —
Frieda hieß damals meine
Kleine -"
„So,"unterbrach der Herr,
„das interessiert mich nicht."
Und er setzte sich in die ent-
ferntere Ecke.
Der Dicke rutschte nach.
Erst ganz leise. Ganz lang-
sam. Dann immer schneller.
Und schließlich mit einem
Wuppdich.
„Jetzt weiß ich es. Jetzt
habe ich es. Ich kenne Sie
vom Gericht."
Der Herr sah auf.
„Sehen Sie! Ich wußte
doch, daß ich Sie kenne. Sie
waren angeklagt. Ich weiß
nicht mehr, weswegen. Aber
das waren Sie. Jetzt däm-
iberts. Stimmte?"
Der Herr antwortete dies-
mal. „Stimmt," nickte er.
Das war Waffer auf die
Mühle des Dicken. „Sie hal-
ten wohl was gemaust?"
„Nein. Gemordet."
„Achherrje iOgottelnee! Zu
Tode gemordet?"
„Ja. Und ich bin freige-
sprochen worden. Ich habe
nämlich auf der Eisenbahn
einen Mann erschlagen, der
mich dauernd mit albernen
Die verdorbene Wurst
.Ihr Hund bat mir eine Wurst gestoblcn! Die muffen Sie bezahlen!"
.Bezahlen Sie den Tierarzt, der ih» behandelt?"
260
VON JO HANNS ROSLEK
Der Personenzug P 876 bummelte die Schienen entlang. In
einem einsamen Abteil saß ein einzelner Herr. Und las stillvergnügt
seine Zeitung.
Plötzlich öffnete sich die Tür. Ein Mann trat ein. „Schönen
guten Abend wünsche ich", sagte er. — „Tag", dankte kurz der
Herr in der Ecke.
Der Mann breitete sich
wohlgefällig dem Herrn gegen-
über aus und ließ ein vergnüg-
tes Lächeln über seine Backen
und seinen Bauch rollen.
Neugierig guckte er auf die
Zeitung seines Gegenübers.
Aber jener tat nicht dergleichen.
Der Dicke drehte seinen Kopf
>uer, um die Schrift bester
lesen zu können. Er drehte
seinen Kops nach links. Er
drehte seinen Kopf nach rechts.
Er hob ihn, um von oben zu
lesen. Er senkte ihn, um unten
herum etwas zu erfahren. So
ging es fünf Minuten. Dann
ließ er einen tiefen Seufzer
fahren: „Ach ja, heiß ist es
bier!"
Der Andere nahm keine
Notiz davon.
Nach zehn Minuten stöhnt«
der Dicke: „Ach ja, kalt ist es
hier!" - Wieder vergeblich.
Nach fünfzehn Minuten
stöhnte er: „Ja. Ja. Es ist,
wie es ist."
Der Andere las ruhig seine
Zeitung.
Da konnte es der Mann
in der Ecke nicht länger halten
und zupfte an der Zeitung:
„Verzeihen Sie gütigst,
aber -"
Der Andere sah mißmutig
aus.
„Verzeihen Sie vielmals,
aber wobin fahren Sie denn?
— Sie kommen wohl aus
Chemnitz? Kennen Sie dort
nicht einen gewiffen Neu-
mann? — Warte» Sie mal,
wartenstemal,ichmußSie doch
kennen, ich muß Sie doch
schon mal wo gesehen haben?
- Können Sie sich nicht ent-
sinnen?" Der Herr hatte wieder seine Zeitung ausgenommen und
gab keine Antwort. „Sie sind wohl Künstler?" Schweigen.
„Nu nee," rückte der Dicke unruhig hin und her, „vielleicht irre
ich mich. Sie sehen nämlich so aus, als ob Sie Künstler wären.
Oder baden Sie vielleicht in Chemnitz eine Kneipe? Ich kenne nämlich
sehr viele Kneipen in Chem-
nitz." Wieder keine Antwort.
„Vielleicht waren Sie auch
mal — das wird es sein, sehen
Sie, jetzt haben wirs — Sie
waren vor fünf Jahren mal
in Göhren. Wiffen Sie, ich
hatte damals so eine kleine
Dicke bei mir. Wiffen Sie
nicht mehr? So eine kleine
nette Dicke. - Aber nee, das
waren Sie auch nicht. Das
war nämlich ein befferer Herr,
der hat meiner Frieda —
Frieda hieß damals meine
Kleine -"
„So,"unterbrach der Herr,
„das interessiert mich nicht."
Und er setzte sich in die ent-
ferntere Ecke.
Der Dicke rutschte nach.
Erst ganz leise. Ganz lang-
sam. Dann immer schneller.
Und schließlich mit einem
Wuppdich.
„Jetzt weiß ich es. Jetzt
habe ich es. Ich kenne Sie
vom Gericht."
Der Herr sah auf.
„Sehen Sie! Ich wußte
doch, daß ich Sie kenne. Sie
waren angeklagt. Ich weiß
nicht mehr, weswegen. Aber
das waren Sie. Jetzt däm-
iberts. Stimmte?"
Der Herr antwortete dies-
mal. „Stimmt," nickte er.
Das war Waffer auf die
Mühle des Dicken. „Sie hal-
ten wohl was gemaust?"
„Nein. Gemordet."
„Achherrje iOgottelnee! Zu
Tode gemordet?"
„Ja. Und ich bin freige-
sprochen worden. Ich habe
nämlich auf der Eisenbahn
einen Mann erschlagen, der
mich dauernd mit albernen
Die verdorbene Wurst
.Ihr Hund bat mir eine Wurst gestoblcn! Die muffen Sie bezahlen!"
.Bezahlen Sie den Tierarzt, der ih» behandelt?"
260
Werk/Gegenstand/Objekt
Pool: UB Fliegende Blätter
Titel
Titel/Objekt
"Die verdorbene Wurst"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Fliegende Blätter
Sachbegriff/Objekttyp
Inschrift/Wasserzeichen
Aufbewahrung/Standort
Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Inv. Nr./Signatur
G 5442-2 Folio RES
Objektbeschreibung
Maß-/Formatangaben
Auflage/Druckzustand
Werktitel/Werkverzeichnis
Herstellung/Entstehung
Künstler/Urheber/Hersteller (GND)
Entstehungsdatum (normiert)
1928 - 1928
Entstehungsort (GND)
Auftrag
Publikation
Fund/Ausgrabung
Provenienz
Restaurierung
Sammlung Eingang
Ausstellung
Bearbeitung/Umgestaltung
Thema/Bildinhalt
Thema/Bildinhalt (GND)
Literaturangabe
Rechte am Objekt
Aufnahmen/Reproduktionen
Künstler/Urheber (GND)
Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
In Copyright (InC) / Urheberrechtsschutz
Creditline
Fliegende Blätter, 169.1928, Nr. 4347, S. 260
Beziehungen
Erschließung
Lizenz
CC0 1.0 Public Domain Dedication
Rechteinhaber
Universitätsbibliothek Heidelberg