Leute berichtet der Vetter Fabian:
„Also, was ich wieder einmal geträumt
habe! Es war schrecklich! Ich bin Schlitt-
schuh gelaufen, auf einer weiten, un-
endlich sich dehnenden Eisfläche. Aber
allmählich wurde sie schmäler und schmä-
ler, und schließlich lief ich nur noch auf
einem schmalen Eisstege, und rechts und
links war schwarzes Wasser. And wie
ich vorwärts blickte, da schien der Eis-
sieg immer noch schmäler zu werden, so
schmal, daß wohl kaum weiter zu kom-
men war. Da wollte ich umkehren und
drehte mich um — — aber da war
hinter mir überhaupt kein Eis mehr:
unmittelbar neben meinen Füßen brauste
schwarzes Wasser. Was sagt ihr zu dem
Traum? Ist das nicht ein Symbol des
menschlichen Lebens? Es gibt keinen
Schritt zurück — — vorwärts müssen
wir, wie es da auch aussehen mag." —
Als der Vetter Fabian gegangen
war, sagte Onkel Wilhelm: „Verstiege-
ner Kerl! Das hat er sich doch bloß
ausgedacht, um geistreich zu erscheinen.
Er hat das gar nicht geträumt."
„Keine Rede von!" stimmte Tante
Paula bei. „Schlittschuh will er gelau-
fen sein? So ein Blödsinn — — wo
wir jetzt im Juli sind."
„Schrecklich! And dabei steht in keinem Diktionär, was auf spanisch heißt: ,B«i uns
ist der Rückwärtsgang kaputtfl"
Vier Geschichien von Tante Paula
Seit Kurt den lange gewünschten photographischen Apparat
besitzt, ist niemand vor ihm sicher. Gratis photographiert er frei-
lich nicht; für ein einigermaßen gelungenes Bild verlangt er ein
Dutzend Platten. Auf die Weise kann er den Betrieb im Gange
erhalten.
Jetzt kommt auch Tante Paula heran. Kurt hat seine eigene
Methode, bei Personenaufnahmen scharf einzustellen. „Lier, nimm
mal die Zeitung, Tante, und halte sie unter's Kinn. Wenn ich
dann lesen kann, ist richtig eingestellt. Rein, so nicht, Tante! Du
mußt die Zeitung natürlich verkehrt halten. Auf der Mattscheibe
sehe ich dich doch auf dem Kopf stehn."
Tante Paula schmeißt die Zeitung hin. Sie kocht. „Du siehst
mich auf dem Kopfe steh»? Ja, was nimmst du dir für Frech-
Heiken heraus, du unverschämter Bengel!"
Onkel Tobias ist der Aelteste der
Familie. Er ist ein erbitterter Feind
alles Reuen. Wenn heute ein großer
Mediziner - es ist aber nicht daran
zu denken, denn so große Mediziner
gibt es nicht — wenn heute ein großer
Mediziner ein Aniversalmittel gegen
alle Krankheiten entdeckte-Onkel
Tobias würde das nicht gefallen, weil
es etwas Neues wäre.
Onkel Tobias ist deshalb auch gegen
die doch schon so lange eingeführte
mitteleuropäische Zeit. „Das ist gegen
die natürliche Ordnung!" schimpfte er
neulich. „Es ist nicht wahr, daß wir z. B. die gleiche Zeit wie
Königsberg haben. Wenn ich als junger Mann meine Braut
in Königsberg besucht hatte und dann zurück nach Berlin fuhr
-da Hab' ich auf jeder Station meine Ahr stellen müssen.
Das war richtig."
Tante Paula verstand das nicht. „Warum soll denn Königs-
berg nicht die gleiche Zeit haben wie wir?"
„Ist doch klar: weil Königsberg auf einem andern Meridian
liegt."
„Meridian? Was meinst du damit?"
„Das mußt du doch wissen. Es ist eben nicht die gleiche
Mittagszeit."
Da zuckte Tante Paula die Achseln. „Na, die Leute in Königs-
berg werden wohl auch zu sehr verschiedenen Zeiten Mittag essen."
Vetter Fabian beschäftigt sich neuerdings sehr mit seinen
Nerven. Er kann nicht gut schlafen; er hat im Lalbschlummer
allerlei Halluzinationen, und wenn er gegen Morgen endlich in
Schlaf fällt, dann hat er die merkwürdigsten Träume. Von denen
erzählt er gern und ausführlich.
22
Der Beweis
„Erzähle mir nichts von deinen Kämpfen mit Tigern und
wilden Stieren!" sagte die Maus zum Löwen. „Taten will ich
sehen! Würge vor meinen Augen eine Katze — und ich glaube,
daß du ein großer Leid bist. . ."
„Also, was ich wieder einmal geträumt
habe! Es war schrecklich! Ich bin Schlitt-
schuh gelaufen, auf einer weiten, un-
endlich sich dehnenden Eisfläche. Aber
allmählich wurde sie schmäler und schmä-
ler, und schließlich lief ich nur noch auf
einem schmalen Eisstege, und rechts und
links war schwarzes Wasser. And wie
ich vorwärts blickte, da schien der Eis-
sieg immer noch schmäler zu werden, so
schmal, daß wohl kaum weiter zu kom-
men war. Da wollte ich umkehren und
drehte mich um — — aber da war
hinter mir überhaupt kein Eis mehr:
unmittelbar neben meinen Füßen brauste
schwarzes Wasser. Was sagt ihr zu dem
Traum? Ist das nicht ein Symbol des
menschlichen Lebens? Es gibt keinen
Schritt zurück — — vorwärts müssen
wir, wie es da auch aussehen mag." —
Als der Vetter Fabian gegangen
war, sagte Onkel Wilhelm: „Verstiege-
ner Kerl! Das hat er sich doch bloß
ausgedacht, um geistreich zu erscheinen.
Er hat das gar nicht geträumt."
„Keine Rede von!" stimmte Tante
Paula bei. „Schlittschuh will er gelau-
fen sein? So ein Blödsinn — — wo
wir jetzt im Juli sind."
„Schrecklich! And dabei steht in keinem Diktionär, was auf spanisch heißt: ,B«i uns
ist der Rückwärtsgang kaputtfl"
Vier Geschichien von Tante Paula
Seit Kurt den lange gewünschten photographischen Apparat
besitzt, ist niemand vor ihm sicher. Gratis photographiert er frei-
lich nicht; für ein einigermaßen gelungenes Bild verlangt er ein
Dutzend Platten. Auf die Weise kann er den Betrieb im Gange
erhalten.
Jetzt kommt auch Tante Paula heran. Kurt hat seine eigene
Methode, bei Personenaufnahmen scharf einzustellen. „Lier, nimm
mal die Zeitung, Tante, und halte sie unter's Kinn. Wenn ich
dann lesen kann, ist richtig eingestellt. Rein, so nicht, Tante! Du
mußt die Zeitung natürlich verkehrt halten. Auf der Mattscheibe
sehe ich dich doch auf dem Kopf stehn."
Tante Paula schmeißt die Zeitung hin. Sie kocht. „Du siehst
mich auf dem Kopfe steh»? Ja, was nimmst du dir für Frech-
Heiken heraus, du unverschämter Bengel!"
Onkel Tobias ist der Aelteste der
Familie. Er ist ein erbitterter Feind
alles Reuen. Wenn heute ein großer
Mediziner - es ist aber nicht daran
zu denken, denn so große Mediziner
gibt es nicht — wenn heute ein großer
Mediziner ein Aniversalmittel gegen
alle Krankheiten entdeckte-Onkel
Tobias würde das nicht gefallen, weil
es etwas Neues wäre.
Onkel Tobias ist deshalb auch gegen
die doch schon so lange eingeführte
mitteleuropäische Zeit. „Das ist gegen
die natürliche Ordnung!" schimpfte er
neulich. „Es ist nicht wahr, daß wir z. B. die gleiche Zeit wie
Königsberg haben. Wenn ich als junger Mann meine Braut
in Königsberg besucht hatte und dann zurück nach Berlin fuhr
-da Hab' ich auf jeder Station meine Ahr stellen müssen.
Das war richtig."
Tante Paula verstand das nicht. „Warum soll denn Königs-
berg nicht die gleiche Zeit haben wie wir?"
„Ist doch klar: weil Königsberg auf einem andern Meridian
liegt."
„Meridian? Was meinst du damit?"
„Das mußt du doch wissen. Es ist eben nicht die gleiche
Mittagszeit."
Da zuckte Tante Paula die Achseln. „Na, die Leute in Königs-
berg werden wohl auch zu sehr verschiedenen Zeiten Mittag essen."
Vetter Fabian beschäftigt sich neuerdings sehr mit seinen
Nerven. Er kann nicht gut schlafen; er hat im Lalbschlummer
allerlei Halluzinationen, und wenn er gegen Morgen endlich in
Schlaf fällt, dann hat er die merkwürdigsten Träume. Von denen
erzählt er gern und ausführlich.
22
Der Beweis
„Erzähle mir nichts von deinen Kämpfen mit Tigern und
wilden Stieren!" sagte die Maus zum Löwen. „Taten will ich
sehen! Würge vor meinen Augen eine Katze — und ich glaube,
daß du ein großer Leid bist. . ."
Werk/Gegenstand/Objekt
Pool: UB Fliegende Blätter
Titel
Titel/Objekt
"Schrecklich!"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Fliegende Blätter
Sachbegriff/Objekttyp
Inschrift/Wasserzeichen
Aufbewahrung/Standort
Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Inv. Nr./Signatur
G 5442-2 Folio RES
Objektbeschreibung
Maß-/Formatangaben
Auflage/Druckzustand
Werktitel/Werkverzeichnis
Herstellung/Entstehung
Künstler/Urheber/Hersteller (GND)
Entstehungsdatum
um 1932
Entstehungsdatum (normiert)
1927 - 1937
Entstehungsort (GND)
Auftrag
Publikation
Fund/Ausgrabung
Provenienz
Restaurierung
Sammlung Eingang
Ausstellung
Bearbeitung/Umgestaltung
Thema/Bildinhalt
Thema/Bildinhalt (GND)
Literaturangabe
Rechte am Objekt
Aufnahmen/Reproduktionen
Künstler/Urheber (GND)
Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
In Copyright (InC) / Urheberrechtsschutz
Creditline
Fliegende Blätter, 176.1932, Nr. 4511, S. 22
Beziehungen
Erschließung
Lizenz
CC0 1.0 Public Domain Dedication
Rechteinhaber
Universitätsbibliothek Heidelberg