Sensation in alter Zeit
Da sprang der alte Zwisler wie besessen von der Arbeit auf,
nahm seine Kappe und lief der Stiftskirche zu. Schon auf halbem
Weg kam von der Frühmesse die Jungfer Apollonia daher. Sie
wollte, wie ja auch sonst die ganzen, langen Jahrzehnte her, mit
kaltem, gemessenem Dank für seinen Gruß an ihm vorüber. Indes,
wofür ihr in jungen Jahren die willigen Worte gefehlt hatten,
das Übernahmen jetzt, wie unter unbewußtem Banu, lebensgeklärt
die großen, dunklen Augen, also, daß ein gar freundlicher Gegen-
gruß entstand mit einem sanften, fernen Lächeln der — Achtung,
bitte, auf die Reziprozität der Gemütsstimmung! — der Melancholie.
Das brachte hinwiederum den Zwisler so außer Rand und Band,
daß er vor der Jungfer stehen blieb und ihre Land ergriff, doch
absolut nichts zu sagen wußte. Deshalb sagte sie, daß sie sich
freue, mit ihm wieder einmal nach so langer Zeit zu Wort zu
kommen, fügte geschickt ein nebensächliches Geplauder an, und
unterdes kam Meister Jakob wieder zu sich selber. Die beiden
trafen sich darauf noch des öfteren, bis dann eines Abends beim
Neunerwirt der alte Zwisler also herausrückte: „Meine lieben
Freunde, jetzt wird 's allmählich Zeit, daß ich's euch sag. Denn
ihr sollt die ersten sein, die 's hören. Nämlich: ich heirate doch
noch die Loni, indem daß wir jetzt lang genug einander getrutzt
haben. !lnd ich heirate bald." Er sah vom Weber Läuble zum
Maler Matt und vom Maler Matt zum Weber Ääuble, und
weil keiner der zwei vom Stuhl fiel, so fragte er schier enttäuscht:
„Ja, ist euch das denn keine Aeberraschung?"
„Schon, schon," sagt der Läuble, „aber . . ."
„Da gibt's kein Aber," fährt der Zwisler auf. „Die Loni
und ich holen einfach nach, was wir schon vor vierzig Jahren
hätten tun sollen, indem daß grad noch Zeit ist."
„Aber und mehr Hab ich nicht sagen wollen — ich Heirat
ja auch," bekennt der Läuble. „Es druckt mich schon lang, daß
Zeichnung von I. Mauder
_5*U \st= 253
A6TU
VIEREN 6
, $T-
Leringszug
o u-n*!
15
Der Tintenfisch
Junger Pottwal
311
Da sprang der alte Zwisler wie besessen von der Arbeit auf,
nahm seine Kappe und lief der Stiftskirche zu. Schon auf halbem
Weg kam von der Frühmesse die Jungfer Apollonia daher. Sie
wollte, wie ja auch sonst die ganzen, langen Jahrzehnte her, mit
kaltem, gemessenem Dank für seinen Gruß an ihm vorüber. Indes,
wofür ihr in jungen Jahren die willigen Worte gefehlt hatten,
das Übernahmen jetzt, wie unter unbewußtem Banu, lebensgeklärt
die großen, dunklen Augen, also, daß ein gar freundlicher Gegen-
gruß entstand mit einem sanften, fernen Lächeln der — Achtung,
bitte, auf die Reziprozität der Gemütsstimmung! — der Melancholie.
Das brachte hinwiederum den Zwisler so außer Rand und Band,
daß er vor der Jungfer stehen blieb und ihre Land ergriff, doch
absolut nichts zu sagen wußte. Deshalb sagte sie, daß sie sich
freue, mit ihm wieder einmal nach so langer Zeit zu Wort zu
kommen, fügte geschickt ein nebensächliches Geplauder an, und
unterdes kam Meister Jakob wieder zu sich selber. Die beiden
trafen sich darauf noch des öfteren, bis dann eines Abends beim
Neunerwirt der alte Zwisler also herausrückte: „Meine lieben
Freunde, jetzt wird 's allmählich Zeit, daß ich's euch sag. Denn
ihr sollt die ersten sein, die 's hören. Nämlich: ich heirate doch
noch die Loni, indem daß wir jetzt lang genug einander getrutzt
haben. !lnd ich heirate bald." Er sah vom Weber Läuble zum
Maler Matt und vom Maler Matt zum Weber Ääuble, und
weil keiner der zwei vom Stuhl fiel, so fragte er schier enttäuscht:
„Ja, ist euch das denn keine Aeberraschung?"
„Schon, schon," sagt der Läuble, „aber . . ."
„Da gibt's kein Aber," fährt der Zwisler auf. „Die Loni
und ich holen einfach nach, was wir schon vor vierzig Jahren
hätten tun sollen, indem daß grad noch Zeit ist."
„Aber und mehr Hab ich nicht sagen wollen — ich Heirat
ja auch," bekennt der Läuble. „Es druckt mich schon lang, daß
Zeichnung von I. Mauder
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VIEREN 6
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Leringszug
o u-n*!
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Der Tintenfisch
Junger Pottwal
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Werk/Gegenstand/Objekt
Pool: UB Fliegende Blätter
Titel
Titel/Objekt
"Aus dem Buche der Natur"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Fliegende Blätter
Sachbegriff/Objekttyp
Inschrift/Wasserzeichen
Aufbewahrung/Standort
Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Inv. Nr./Signatur
G 5442-2 Folio RES
Objektbeschreibung
Maß-/Formatangaben
Auflage/Druckzustand
Werktitel/Werkverzeichnis
Herstellung/Entstehung
Künstler/Urheber/Hersteller (GND)
Entstehungsdatum
um 1933
Entstehungsdatum (normiert)
1928 - 1938
Entstehungsort (GND)
Auftrag
Publikation
Fund/Ausgrabung
Provenienz
Restaurierung
Sammlung Eingang
Ausstellung
Bearbeitung/Umgestaltung
Thema/Bildinhalt
Thema/Bildinhalt (GND)
Literaturangabe
Rechte am Objekt
Aufnahmen/Reproduktionen
Künstler/Urheber (GND)
Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
In Copyright (InC) / Urheberrechtsschutz
Creditline
Fliegende Blätter, 178.1933, Nr. 4581, S. 311
Beziehungen
Erschließung
Lizenz
CC0 1.0 Public Domain Dedication
Rechteinhaber
Universitätsbibliothek Heidelberg