Zeichnung von E. Kirchner
Sie hatten immer an sich beiden
Allein genug in dieser Welt/
Sie brauchten keine andern Freuden
Und blieben auf sich selbst gestellt.
Alle Liebe
Einander konnten sie beglücken,
Genug war ihnen da beschert
Gleichgültig haben sie die Rücken
Der ganzen andern Welt gekehrt.
Und dies Gefühl gut auszudrücken.
Half ibnen schließlich auch die Zeit:
Allmählich wurden ihre Rücken ~
Rutsch, Welt, hinunter! mächtig breit.
Der Kleber
Peter schmunzelte. Wer mochte bloß solchen Vers verbrochen
haben? Aber er las ihn gleich noch einmal, und dann noch einmal
und noch einmal. Der Vers schien magische Krast in sich zu haben,
daß er einen zwang, immer wieder hinzublicken. Peter versuchte, sich
abzulenken. Er sah aus dem Fenster, zählte die vorüberkommenden
Bahnen, dann die Zigarrenläden und die Laternen, aber es half
nichts, plötzlich wanderten seine Augen doch wieder zu dem kleinen
Vers zurück, und er sprach ihn sogar leise vor sich hin. Die gereim-
ten Worte beschäftigten ihn so sehr, daß er fast vergessen hätte, an
der richtigen Stelle auszusteigen.---
Als er sich am nächsten Tage in die Straßenbahn setzte, hatte Peter
seine Zeitung wieder bei sich, aber zum Lesen kam er dennoch nicht.
„Lüste nicht und puste nicht
Andern Leuten ins Gesicht."--
Peter konnte den Vers natürlich längst auswendig, denn er hatte
sich ihm unauslöschlich eingeprägt, aber jetzt, wo er ihn wieder ge-
druckt vor sich sah, war die Versuchung doch zu groß, ihn noch ein-
mal ganz genau zu lesen. And dabei machte Peter Seeburg eine
Entdeckung, die ihn außerordentlich beunruhigte. Zn der zweiten Zeile
308
war nämlich ein Kleber, das Wort „Leuten" war
erst nachträglich darübergeklebt worden; was
mochte da wohl vorher gestanden haben?
Peter sah sich vor ein Problem gestellt
und begann zu raten. Vielleicht — — —
Menschen? Oder-Gästen?-Nein, das
hätte man ruhig stehen lassen können, denn dem
Sinne nach wäre es ja schließlich dasselbe wie
Leute gewesen. Es mußte also irgend ein Wort
gewesen sein, das da nicht hingehörte, das viel-
leicht Aergernis erregt hätte, denn warum hatte
man es später überklebt? Peter grübelte nach,
aber er kam zu keinem Ergebnis und beschloß
endlich, den Schaffner zu fragen.
„Za, lieber Lerrl" sagte der, „das kann ich
Ihnen auch nicht sagen; als wir die Schilder be-
kamen, waren sie schon so; was da vorher da-
raufgestanden hat, das weiß ich auch nicht."
Peter war enttäuscht, aber er gab sich damit
nicht zufrieden. Am Nachmittag ging er zum
nächsten Betriebsbahnhof und verlangte den
Inspektor zu sprechen. Man schickte ihn ins
Büro, und dort trug Peter seine Bitte vor.
Der Inspektor machte ein etwas verdutztes
Gesicht; die Frage schien ihm ein wenig merk-
würdig. „Was für ein Wort?" wiederholte er.
Peter erzählte ihm von seinen Sorgen und bat
noch einmal dringend, ihm doch eben jenes Wort
zu verraten. Der Beamte schüttelte den Kops,
dann nahm er eine dicke Mappe aus dem
Schreibtisch und begann darin herumzublättern.
„Nein," erklärte er nach einigem Suchen, „in
meinen Akten ist nichts davon vermerkt. Wahr-
scheinlich soll es geheim gehalten werden, die
Direktion wird ihre Gründe dafür haben, ich
jedenfalls kann Ihnen nichts darüber sagen. Im
übrigen ist es doch auch belanglos," tröstete er
den traurig dreinschauenden Peter, „was da
vorher gestanden hat, nicht wahr?" Aber für
Peter war es nicht belanglos; man sollte es
seinetwegen eine Manie nennen, er mußte
jedenfalls erfahren, was für ein Wort da
früher gestanden hatte.
Als er nach Lause kam, hatte Peter Seeburg
einen Plan gefaßt. Er studierte das ganze
Straßenbahnnetz, bis er eine Linie fand, die in
einsame Gegenden führte. Am späten Abend
bestieg er eben diese Linie und fuhr bis zur End-
station. Sie lag an einem Wäldchen, vom nächsten Laus wenigstens
zehn Minuten entfernt, und nur eine Bank stand dort, auf der
Schaffner und Wagenführer saßen, wenn sie ihr Brot verzehrten
oder ein Pfeifchen rauchten. Peter stieg mit den andern Fahrgästen
aus und wartete geduldig, bis auch die beiden Straßenbahner den
Wagen verließen, um ein wenig Luft zu schnappen. Dann schlich er
wieder herbei, kletterte heimlich in die Bahn und begann sein Werk.
Vorsichtig versuchte er den Kleber abzulösen, um endlich zu erfahren,
was für ein Wort in dem Vers gestanden hatte, bevor man es durch
„Leute" ersetzte. Es war nicht ganz einfach, denn der Leim war gut,
außerdem kam der Schaffner ein paar Mal in die Nähe, und Peter
mußte seine Arbeit unterbrechen. Aber schließlich halte er es doch
geschafft, noch eine kleine Ecke, dann war der Schleier und das
Geheimnis gelüftet.
Peter war schon ganz aufgeregt; fast hätte er sich zum Abschluß
noch das Messer in den Finger gejagt. Behutsam zog er das Papier
ab, und was lasen seine erwartungsvollen Augen? „Leute" stand da,
ganz einfach „Leute", nur das L war ein wenig verwischt, man hätte
es auch für ein B halten können; und weil so etwas nicht gut aus-
sieht, hatte man es noch einmal hübsch sauber überklebt.
Sie hatten immer an sich beiden
Allein genug in dieser Welt/
Sie brauchten keine andern Freuden
Und blieben auf sich selbst gestellt.
Alle Liebe
Einander konnten sie beglücken,
Genug war ihnen da beschert
Gleichgültig haben sie die Rücken
Der ganzen andern Welt gekehrt.
Und dies Gefühl gut auszudrücken.
Half ibnen schließlich auch die Zeit:
Allmählich wurden ihre Rücken ~
Rutsch, Welt, hinunter! mächtig breit.
Der Kleber
Peter schmunzelte. Wer mochte bloß solchen Vers verbrochen
haben? Aber er las ihn gleich noch einmal, und dann noch einmal
und noch einmal. Der Vers schien magische Krast in sich zu haben,
daß er einen zwang, immer wieder hinzublicken. Peter versuchte, sich
abzulenken. Er sah aus dem Fenster, zählte die vorüberkommenden
Bahnen, dann die Zigarrenläden und die Laternen, aber es half
nichts, plötzlich wanderten seine Augen doch wieder zu dem kleinen
Vers zurück, und er sprach ihn sogar leise vor sich hin. Die gereim-
ten Worte beschäftigten ihn so sehr, daß er fast vergessen hätte, an
der richtigen Stelle auszusteigen.---
Als er sich am nächsten Tage in die Straßenbahn setzte, hatte Peter
seine Zeitung wieder bei sich, aber zum Lesen kam er dennoch nicht.
„Lüste nicht und puste nicht
Andern Leuten ins Gesicht."--
Peter konnte den Vers natürlich längst auswendig, denn er hatte
sich ihm unauslöschlich eingeprägt, aber jetzt, wo er ihn wieder ge-
druckt vor sich sah, war die Versuchung doch zu groß, ihn noch ein-
mal ganz genau zu lesen. And dabei machte Peter Seeburg eine
Entdeckung, die ihn außerordentlich beunruhigte. Zn der zweiten Zeile
308
war nämlich ein Kleber, das Wort „Leuten" war
erst nachträglich darübergeklebt worden; was
mochte da wohl vorher gestanden haben?
Peter sah sich vor ein Problem gestellt
und begann zu raten. Vielleicht — — —
Menschen? Oder-Gästen?-Nein, das
hätte man ruhig stehen lassen können, denn dem
Sinne nach wäre es ja schließlich dasselbe wie
Leute gewesen. Es mußte also irgend ein Wort
gewesen sein, das da nicht hingehörte, das viel-
leicht Aergernis erregt hätte, denn warum hatte
man es später überklebt? Peter grübelte nach,
aber er kam zu keinem Ergebnis und beschloß
endlich, den Schaffner zu fragen.
„Za, lieber Lerrl" sagte der, „das kann ich
Ihnen auch nicht sagen; als wir die Schilder be-
kamen, waren sie schon so; was da vorher da-
raufgestanden hat, das weiß ich auch nicht."
Peter war enttäuscht, aber er gab sich damit
nicht zufrieden. Am Nachmittag ging er zum
nächsten Betriebsbahnhof und verlangte den
Inspektor zu sprechen. Man schickte ihn ins
Büro, und dort trug Peter seine Bitte vor.
Der Inspektor machte ein etwas verdutztes
Gesicht; die Frage schien ihm ein wenig merk-
würdig. „Was für ein Wort?" wiederholte er.
Peter erzählte ihm von seinen Sorgen und bat
noch einmal dringend, ihm doch eben jenes Wort
zu verraten. Der Beamte schüttelte den Kops,
dann nahm er eine dicke Mappe aus dem
Schreibtisch und begann darin herumzublättern.
„Nein," erklärte er nach einigem Suchen, „in
meinen Akten ist nichts davon vermerkt. Wahr-
scheinlich soll es geheim gehalten werden, die
Direktion wird ihre Gründe dafür haben, ich
jedenfalls kann Ihnen nichts darüber sagen. Im
übrigen ist es doch auch belanglos," tröstete er
den traurig dreinschauenden Peter, „was da
vorher gestanden hat, nicht wahr?" Aber für
Peter war es nicht belanglos; man sollte es
seinetwegen eine Manie nennen, er mußte
jedenfalls erfahren, was für ein Wort da
früher gestanden hatte.
Als er nach Lause kam, hatte Peter Seeburg
einen Plan gefaßt. Er studierte das ganze
Straßenbahnnetz, bis er eine Linie fand, die in
einsame Gegenden führte. Am späten Abend
bestieg er eben diese Linie und fuhr bis zur End-
station. Sie lag an einem Wäldchen, vom nächsten Laus wenigstens
zehn Minuten entfernt, und nur eine Bank stand dort, auf der
Schaffner und Wagenführer saßen, wenn sie ihr Brot verzehrten
oder ein Pfeifchen rauchten. Peter stieg mit den andern Fahrgästen
aus und wartete geduldig, bis auch die beiden Straßenbahner den
Wagen verließen, um ein wenig Luft zu schnappen. Dann schlich er
wieder herbei, kletterte heimlich in die Bahn und begann sein Werk.
Vorsichtig versuchte er den Kleber abzulösen, um endlich zu erfahren,
was für ein Wort in dem Vers gestanden hatte, bevor man es durch
„Leute" ersetzte. Es war nicht ganz einfach, denn der Leim war gut,
außerdem kam der Schaffner ein paar Mal in die Nähe, und Peter
mußte seine Arbeit unterbrechen. Aber schließlich halte er es doch
geschafft, noch eine kleine Ecke, dann war der Schleier und das
Geheimnis gelüftet.
Peter war schon ganz aufgeregt; fast hätte er sich zum Abschluß
noch das Messer in den Finger gejagt. Behutsam zog er das Papier
ab, und was lasen seine erwartungsvollen Augen? „Leute" stand da,
ganz einfach „Leute", nur das L war ein wenig verwischt, man hätte
es auch für ein B halten können; und weil so etwas nicht gut aus-
sieht, hatte man es noch einmal hübsch sauber überklebt.
Werk/Gegenstand/Objekt
Pool: UB Fliegende Blätter
Titel
Titel/Objekt
"Alte Liebe"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Fliegende Blätter
Sachbegriff/Objekttyp
Inschrift/Wasserzeichen
Aufbewahrung/Standort
Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Inv. Nr./Signatur
G 5442-2 Folio RES
Objektbeschreibung
Maß-/Formatangaben
Auflage/Druckzustand
Werktitel/Werkverzeichnis
Herstellung/Entstehung
Künstler/Urheber/Hersteller (GND)
Entstehungsdatum
um 1934
Entstehungsdatum (normiert)
1929 - 1939
Entstehungsort (GND)
Auftrag
Publikation
Fund/Ausgrabung
Provenienz
Restaurierung
Sammlung Eingang
Ausstellung
Bearbeitung/Umgestaltung
Thema/Bildinhalt
Thema/Bildinhalt (GND)
Literaturangabe
Rechte am Objekt
Aufnahmen/Reproduktionen
Künstler/Urheber (GND)
Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
In Copyright (InC) / Urheberrechtsschutz
Creditline
Fliegende Blätter, 180.1934, Nr. 4633, S. 308
Beziehungen
Erschließung
Lizenz
CC0 1.0 Public Domain Dedication
Rechteinhaber
Universitätsbibliothek Heidelberg