Zeichnung von E. Kirchner
* "/V
„Da drüben gehen Meiers. Die müssen wir so deutlich
übersehen, daß sie merken, wie wir sie nicht übersehen haben 1"
Von Peter Kringel
Die Angelegenheit hat sich in einem Abteil der Eisenbahn zuge-
iragen. Sie spielt unter besseren Leuten: in einem Abteil zweiter
Klasse. An den beiden Fensterplätzen sitzen sich zwei Lerren gegen-
über. Der eine, der in der Fahrtrichtung sitzt, ist zuerst gekommen.
Aeber seinem Platze baumelt am Gepäcknetz ein
Papierstreifen des Reisebüros: Belegt für einen
Reisenden II. Klasse. Dieser Lerr sieht gesund und
selbstbewußt aus. Sein Gegenüber ist ein schmächti-
ges Kerlchen. Alles an ihm, die Falten seines
Anzugs, sein Schnurrbart und seine Krawatte
scheinen für die Existenz ihres Besitzers um Ver-
zeihung zu bitten. Sogar seine Kneifergläser
haben einen schüchternen Ausdruck.
Plötzlich klappt der Robuste das kleine Fenster-
tischchen nach unten, als wolle er eine trennende
Wand entfernen, macht im Sitzen eine kleine
Verbeugung und sagt: „Sie gestatten wohl —
Püsterich!"
Der Schmächtige sieht diesem Beginnen ängst-
lich zu und macht ein Gesicht, als solle ein Atten-
tat auf ihn verübt werden.
„Ja — bitte?" sagt er. „Sie wünschen?"
„Ich möchte mich mit Ihnen unterhalten."
„Ja, warum . . .?"
„Weil Sie mir leid tun."
Der Kleine blickt hilflos zur Decke und scheint
nach der Notbremse zu suchen.
„Sie leiden an schweren Lemmungen," fährt
der andere fort. „Sie verstehen nicht, sich durch-
174
zusetzen, ihre Ellenbogen zu gebrauchen. Sie kommen
überall zu kurz und werden ständig zurückgesetzt."
„Wie kommen Sie darauf?"
„Lerr, weichen Sie mir nicht aus! Geben Sie
eine klare Antwort! Ist es so oder nicht?"
„Run ja."
„Ich sehe an Ihrem Kopf, daß Sie gute Anlagen
haben. Sie könnten es im Leben viel weiter gebracht
haben, wenn es Ihnen nicht an Willenskraft fehlte,
wenn Sie nicht wie eine Wegschnecke beim Ahnen
einer Gefahr die Fühler einzögen. Lerr, ich habe ähn-
liches durchgemacht, ich weiß, was Sie leiden. Ich bin
entschlossen. Ihnen zu Helsen. Wie weit fahren Sie?"
„Ich fahre bis Duselwitz."
„Teufel! Sind Sie ein schwerer Fall! Rur ein
Mensch wie Sie kann in Duselwitz etwas zu tun
haben. Ra, egal — da haben wir wenigstens ge-
nügend Zeit."
„Zeit — wozu?"
„Am Sie ein wenig auf die Beine zu stellen. Lier,
nehmen Sie mal dieses Büchlein. ,Stärkung der
Willenskraft^. Sie lesen jetzt das zweite Kapitel, das
von der Selbstbehauptung im Amgang mit Fremden
handelt. Dann gehen Sie in den Speisewagen,
trinken eine Bouillon und überdenken das Gelesene
— und dann reden wir weiter."
Der Schmächtige las. Dann entfernte er sich in
der Richtung zum Speisewagen. Rach zehn Minuten
kam er wieder.
„So. And jetzt geben Sie mir Ihre Lände, alle
beide! Ich werde durch direkten Kontakt magnetische
Kraft in Sie einströmen lassen. Sie spüren die
Wärme meiner Lände, sie wächst ständig, sie füllt
Ihre Lände an wie ein Strom die Flutbecken, jetzt
— jetzt bricht es über Ihre Landgelenke und stürzt
in Sie hinein. Ein niegekanntes Gefühl von Klar-
heit und Kraft durchrieselt Sie, Ihr Kopf wird frei
von quälenden Vorstellungen, Ihr Blick wird fest.
Sie fühlen, wie etwas Lemmendes von Ihnen abfällt, ein Riese leiht
Ihnen seine Stärke .... So, und jetzt gehe ich hinaus und lasse
Sie allein. Inzwischen lesen Sie das Kapitel noch einmal. Jetzt
werden Sie erst den richtigen Nutzen davon haben."
Als nach einer halben Stunde der Robuste wieder kam, war der
Kleine dabei, sich zum Aussteigen fertig zu machen.
„Nun?" fragte der Robuste.
„Ihre Methode ist ein Dreck!"
„Lerr!"
„Wenn Sie kein Dreck wäre, dann . . ."
„Le, was dann?"
„Dann würde ich mir jetzt nicht ein anderes
Abteil suchen müssen."
„Sie werden unverschämt!"
„Ich kann das Rückwärtsfahren nicht ver-
tragen, und Sie haben die ganze Zeit auf dem
von mir belegten Platz gesessen. — And außer-
dem kann ich mir ein Arteil über Ihre lächerliche
Methode erlauben. Jawohl, das kann ich! Denn
ich bin selbst Charakterbildner, und das Buch,
das Sie mir zu lesen gegeben haben, ist von mir."
Pech „Is ja richtig — ich
Hab der Stine versprochen, einen
ganzen Tag keinen Schnaps zu
trinken. Aber nu weiß ich wirk-
lich nich mehr — welchen Tag?!"
Ein Zentaur
„Dieser Lippelmann muß ja eine gradezu
närrische Leidenschaft für Pferde haben. Er scheint
nur unter seinen Gäulen zu leben."
„Nur! Er ist selber schon ein halbes Roß.
Erzählen Sie ihm einen Witz, dann wiehert er."
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„Da drüben gehen Meiers. Die müssen wir so deutlich
übersehen, daß sie merken, wie wir sie nicht übersehen haben 1"
Von Peter Kringel
Die Angelegenheit hat sich in einem Abteil der Eisenbahn zuge-
iragen. Sie spielt unter besseren Leuten: in einem Abteil zweiter
Klasse. An den beiden Fensterplätzen sitzen sich zwei Lerren gegen-
über. Der eine, der in der Fahrtrichtung sitzt, ist zuerst gekommen.
Aeber seinem Platze baumelt am Gepäcknetz ein
Papierstreifen des Reisebüros: Belegt für einen
Reisenden II. Klasse. Dieser Lerr sieht gesund und
selbstbewußt aus. Sein Gegenüber ist ein schmächti-
ges Kerlchen. Alles an ihm, die Falten seines
Anzugs, sein Schnurrbart und seine Krawatte
scheinen für die Existenz ihres Besitzers um Ver-
zeihung zu bitten. Sogar seine Kneifergläser
haben einen schüchternen Ausdruck.
Plötzlich klappt der Robuste das kleine Fenster-
tischchen nach unten, als wolle er eine trennende
Wand entfernen, macht im Sitzen eine kleine
Verbeugung und sagt: „Sie gestatten wohl —
Püsterich!"
Der Schmächtige sieht diesem Beginnen ängst-
lich zu und macht ein Gesicht, als solle ein Atten-
tat auf ihn verübt werden.
„Ja — bitte?" sagt er. „Sie wünschen?"
„Ich möchte mich mit Ihnen unterhalten."
„Ja, warum . . .?"
„Weil Sie mir leid tun."
Der Kleine blickt hilflos zur Decke und scheint
nach der Notbremse zu suchen.
„Sie leiden an schweren Lemmungen," fährt
der andere fort. „Sie verstehen nicht, sich durch-
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zusetzen, ihre Ellenbogen zu gebrauchen. Sie kommen
überall zu kurz und werden ständig zurückgesetzt."
„Wie kommen Sie darauf?"
„Lerr, weichen Sie mir nicht aus! Geben Sie
eine klare Antwort! Ist es so oder nicht?"
„Run ja."
„Ich sehe an Ihrem Kopf, daß Sie gute Anlagen
haben. Sie könnten es im Leben viel weiter gebracht
haben, wenn es Ihnen nicht an Willenskraft fehlte,
wenn Sie nicht wie eine Wegschnecke beim Ahnen
einer Gefahr die Fühler einzögen. Lerr, ich habe ähn-
liches durchgemacht, ich weiß, was Sie leiden. Ich bin
entschlossen. Ihnen zu Helsen. Wie weit fahren Sie?"
„Ich fahre bis Duselwitz."
„Teufel! Sind Sie ein schwerer Fall! Rur ein
Mensch wie Sie kann in Duselwitz etwas zu tun
haben. Ra, egal — da haben wir wenigstens ge-
nügend Zeit."
„Zeit — wozu?"
„Am Sie ein wenig auf die Beine zu stellen. Lier,
nehmen Sie mal dieses Büchlein. ,Stärkung der
Willenskraft^. Sie lesen jetzt das zweite Kapitel, das
von der Selbstbehauptung im Amgang mit Fremden
handelt. Dann gehen Sie in den Speisewagen,
trinken eine Bouillon und überdenken das Gelesene
— und dann reden wir weiter."
Der Schmächtige las. Dann entfernte er sich in
der Richtung zum Speisewagen. Rach zehn Minuten
kam er wieder.
„So. And jetzt geben Sie mir Ihre Lände, alle
beide! Ich werde durch direkten Kontakt magnetische
Kraft in Sie einströmen lassen. Sie spüren die
Wärme meiner Lände, sie wächst ständig, sie füllt
Ihre Lände an wie ein Strom die Flutbecken, jetzt
— jetzt bricht es über Ihre Landgelenke und stürzt
in Sie hinein. Ein niegekanntes Gefühl von Klar-
heit und Kraft durchrieselt Sie, Ihr Kopf wird frei
von quälenden Vorstellungen, Ihr Blick wird fest.
Sie fühlen, wie etwas Lemmendes von Ihnen abfällt, ein Riese leiht
Ihnen seine Stärke .... So, und jetzt gehe ich hinaus und lasse
Sie allein. Inzwischen lesen Sie das Kapitel noch einmal. Jetzt
werden Sie erst den richtigen Nutzen davon haben."
Als nach einer halben Stunde der Robuste wieder kam, war der
Kleine dabei, sich zum Aussteigen fertig zu machen.
„Nun?" fragte der Robuste.
„Ihre Methode ist ein Dreck!"
„Lerr!"
„Wenn Sie kein Dreck wäre, dann . . ."
„Le, was dann?"
„Dann würde ich mir jetzt nicht ein anderes
Abteil suchen müssen."
„Sie werden unverschämt!"
„Ich kann das Rückwärtsfahren nicht ver-
tragen, und Sie haben die ganze Zeit auf dem
von mir belegten Platz gesessen. — And außer-
dem kann ich mir ein Arteil über Ihre lächerliche
Methode erlauben. Jawohl, das kann ich! Denn
ich bin selbst Charakterbildner, und das Buch,
das Sie mir zu lesen gegeben haben, ist von mir."
Pech „Is ja richtig — ich
Hab der Stine versprochen, einen
ganzen Tag keinen Schnaps zu
trinken. Aber nu weiß ich wirk-
lich nich mehr — welchen Tag?!"
Ein Zentaur
„Dieser Lippelmann muß ja eine gradezu
närrische Leidenschaft für Pferde haben. Er scheint
nur unter seinen Gäulen zu leben."
„Nur! Er ist selber schon ein halbes Roß.
Erzählen Sie ihm einen Witz, dann wiehert er."
Werk/Gegenstand/Objekt
Pool: UB Fliegende Blätter
Titel
Titel/Objekt
"Da drüben gehen Meiers. ..." "Pech"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Fliegende Blätter
Sachbegriff/Objekttyp
Inschrift/Wasserzeichen
Aufbewahrung/Standort
Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Inv. Nr./Signatur
G 5442-2 Folio RES
Objektbeschreibung
Maß-/Formatangaben
Auflage/Druckzustand
Werktitel/Werkverzeichnis
Herstellung/Entstehung
Künstler/Urheber/Hersteller (GND)
Entstehungsdatum
um 1934
Entstehungsdatum (normiert)
1929 - 1939
Entstehungsort (GND)
Auftrag
Publikation
Fund/Ausgrabung
Provenienz
Restaurierung
Sammlung Eingang
Ausstellung
Bearbeitung/Umgestaltung
Thema/Bildinhalt
Thema/Bildinhalt (GND)
Literaturangabe
Rechte am Objekt
Aufnahmen/Reproduktionen
Künstler/Urheber (GND)
Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
In Copyright (InC) / Urheberrechtsschutz
Creditline
Fliegende Blätter, 181.1934, Nr. 4650, S. 174
Beziehungen
Erschließung
Lizenz
CC0 1.0 Public Domain Dedication
Rechteinhaber
Universitätsbibliothek Heidelberg