Der Trick
Von Peter Kringel
Schweigend hatten sich die sechs Menschen im Abteil gegenüber
gesessen. Man war gar nicht mehr weit von der Grenze. Auf der
letzten Station vorher stieg eine sehr elegante und sehr nervöse Dame
ein. Sie bettete einen enormen Blumenstrauß vorsichtig in eine
Lücke zwischen zwei Neisekoffern ins Netz, setzte sich dann, ließ einen
erstickten Seufzer hören und puderte sich rasch. Dann stieg sie über
acht oder zehn Beine hinweg zum Fenster, das sie tief aufatmend
öffnete. Sofort beschwerte sich der Lerr aus Leipzig, und auch andre
Stimmen wurden murrend laut. Die Dame trat zurück, ohne das
Fenster zu schließen, und ging auf den Gang hinaus. Der Lerr aus
Dresden tippte vielsagend hinter ihr her an seine Stirne.
„Wissen Se, was das bedeiten soll?" fragte er im Kreise um-
her. Aber er mußte seine Ausführungen unterbrechen, denn die
Dame kam schon wieder ins Ab-
teil, nahm den Blumenstrauß wie
ein Kind in den Arm und ver-
schwand damit nach rechts in den
Seitengang. Der Berliner in der
Gangecke drückte sich die Nase an
der Fensterscheibe platt, um ihr
nachzusehen, dann kicherte er.
„Ich gennde wedd'n, daß die
zu nem Keliebd'n fährt I" sagte
der Sachse.
„Ansinn!" rührte sich jetzt ein
andrer, der bis dahin 6 Stunden
lang Kreuzworträtsel gelöst hatte.
„Die hat was zu verzollen."
„Das könnte stimmen," pflich-
tete der Berliner bei.
„Wer hat das nicht?" flötete
mit einem kleinen Seufzer das
junge Mädchen aus Köln, die in
der andern Fensterecke saß.
„Kennen Sie vielleicht die
Strecke?" wandte sich jetzt ein
Lerr, der bis dahin gelesen hatte,
an den Berliner.
„Sie meinen dieZollbeamten?"
lachte der. „Ja, ich bin öfter hier gefahren — meine Firma baut
drüben ein Wasserwerk — Gott, man triffts ganz verschieden: ein-
mal wird überhaupt nichts angesehen, und dann kann man es wieder
erleben, daß sie einem die Brieftasche aus dem Nock nehmen und
das Futter abtasten oder einen die Stiefel ausziehen lassen."
Alle drehten sich dem Berliner zu. In jedem Gesicht war eine
gewisse Spannung.
„Ist es wahr," sagte die Kölnerin, „ist es tatsächlich wahr, daß
es Kabinen für Damen gibt? And . . ."
Der Sachse schnitt durch eine Landbewegung ihre besorgten
Fragen ab. In dieser Landbewegung lag zielbewußte Sachlichkeit.
„Genn'ch!" sagte er. „Das sin Berioden: mal sin se scharf und
mal widd'r nich. Gloom' Se, daß mir nu grade in ne scharfe Beriode
neingomm' ?"
Der Berliner zuckte die Achseln. Statt seiner antwortete die
elegante Dame mit dem Blumenstrauß, die wieder eingetreten war,
als der Sachse zu reden anfing.
„Die Kontrolle ist seit voriger Woche besonders verschärft," sagte
sie. And sie fügte nach einer Weile, während diese Worte wirkten,
leise hinzu: „Gott sei Dank, mir kann nichts passieren!"
„Wieso d'n nich?" erkundigte sich der Leipziger.
Die elegante Dame, die jetzt ruhiger schien, sah gleichsam prü-
fend von einem zum andern, ehe sie antwortete: „Der Blumenstrauß."
Kosend barg sie die eine Wange in den frischen Blumen.
Ein allgemeines Lm! war die Antwort.
„Wenn man zusammen in einem Abteil die Grenze überschreitet,"
fuhr die Dame fort, „dann bildet man eine Schicksalsgemeinschaft."
334
„Auskezeichned!" pflichtete der Sachse bei.
„Zu verbergen hat jeder etwas. Darum bin ich auf den Trick
mit dem Blumenstrauß gekommen. Er läßt sich nur ausführen, wenn
der Zug in der Richtung fährt wie der unsre. Auf der einen Seite
fällt nämlich direkt an den Schienen der Berg steil ab, gut 40 Meter
tief. Nun, sehen Sie: hier in diesem Strauß ist eine Blechkapsel
verborgen, die meine geringe Barschaft enthält — man kann das
Geld drüben gut brauchen, nicht wahr? Ich werfe nun den Blumen-
strauß aus dem Fenster hinunter in die Wiese. Warum? Das will
ich Ihnen sagen: Blumen müssen verzollt werden. Darum findet
kein Grenzbeamter etwas dabei, wenn er meinen Strauß hinunter-
fliegen sieht."
„And die Blechkapsel? und Ihr Geld?" fragte man durcheinander.
Die Dame öffnete ihr Land-
täschchen und holte ein kleines
Knäuel schwarzen starken Fadens
daraus hervor, dessen eines Ende
sie geschickt um die Blumenstiele
schlang.
„Da haben Sie das ganze
Geheimnis, meine Herrschaften.
Ich ziehe die Blumen im letzten
Moment wieder herauf. Aebri-
gens sind wir in 5 Minuten an
der Grenze."
„Großard'ch!" bewunderte der
Leipziger. „Ahwer unforstchd'ch sin
Sie,Frailein! Na,ichsageja nischd"
— er griff in seine Brusttasche —
„wenn Sie so guhd sein wollen un
mein Schweichegeld ooch in Ihre
Gabbs'l schdegg'n?"
„Aber gern!"
„Wie aufregend!" sagte die
Kölnerin. „Darf ich Sie bitten,
von mir auch 300 Mark mit hin-
ein zu tun?"
Es meldeten sich noch mehr
Interessenten.
„Einen Augenblick," lächelte die elegante Dame, „ich muß mir
nur die Summen mal eben notieren. And wenn es soweit ist, sind
Sie vielleicht so freundlich, den Faden in die Land zu nehmen und
ganz unauffällig dabei am Fenster eine Zigarette zu rauchen." Sie
sagte das zu der Kölnerin. „Ich werde aufpassen, wenn die Beamten
kommen."
Der Zug hielt mit einem Ruck.
„Spielen wir einen Skat auf meiner Neisedecke!" schlug der
Berliner vor. „Sowas sieht immer harmlos aus."
Alles klappte vorzüglich. Ein Zollbeamter machte die Türe auf,
fragte kurz und verschwand wieder. Die Kölnerin am Fenster beugte
sich zurück und sah die elegante Dame fragend an. „Soll ich hinauf-
ziehen?" hieß der Blick.
„Noch nicht!" bedeutete das kurze Kopfschütteln.
Dann stand die elegante Dame auf.
„Jetzt darf man hinaus," sagte sie, „ich will sehen, ob sie nicht
etwa zurückkommen."
Die Lerren spielten für alle Fälle weiter. Plötzlich ruckte der
Zug an.
„Was tun Sie?" rief die Kölnerin zum Fenster hinaus und
taumelte ins Abteil zurück.
Die Lerren sprangen auf. Karten wirbelten durch die Luft.
Der Sachse fing das schwankende Mädchen auf. Die Kölnerin hielt
krampfhaft ein knapp zwei Meter langes Stück schwarzen Faden
in der Land.
Der Zug fuhr schnell an.
„Sie hat den Faden abgeschnitten I" sagte die Kölnerin.
Von Peter Kringel
Schweigend hatten sich die sechs Menschen im Abteil gegenüber
gesessen. Man war gar nicht mehr weit von der Grenze. Auf der
letzten Station vorher stieg eine sehr elegante und sehr nervöse Dame
ein. Sie bettete einen enormen Blumenstrauß vorsichtig in eine
Lücke zwischen zwei Neisekoffern ins Netz, setzte sich dann, ließ einen
erstickten Seufzer hören und puderte sich rasch. Dann stieg sie über
acht oder zehn Beine hinweg zum Fenster, das sie tief aufatmend
öffnete. Sofort beschwerte sich der Lerr aus Leipzig, und auch andre
Stimmen wurden murrend laut. Die Dame trat zurück, ohne das
Fenster zu schließen, und ging auf den Gang hinaus. Der Lerr aus
Dresden tippte vielsagend hinter ihr her an seine Stirne.
„Wissen Se, was das bedeiten soll?" fragte er im Kreise um-
her. Aber er mußte seine Ausführungen unterbrechen, denn die
Dame kam schon wieder ins Ab-
teil, nahm den Blumenstrauß wie
ein Kind in den Arm und ver-
schwand damit nach rechts in den
Seitengang. Der Berliner in der
Gangecke drückte sich die Nase an
der Fensterscheibe platt, um ihr
nachzusehen, dann kicherte er.
„Ich gennde wedd'n, daß die
zu nem Keliebd'n fährt I" sagte
der Sachse.
„Ansinn!" rührte sich jetzt ein
andrer, der bis dahin 6 Stunden
lang Kreuzworträtsel gelöst hatte.
„Die hat was zu verzollen."
„Das könnte stimmen," pflich-
tete der Berliner bei.
„Wer hat das nicht?" flötete
mit einem kleinen Seufzer das
junge Mädchen aus Köln, die in
der andern Fensterecke saß.
„Kennen Sie vielleicht die
Strecke?" wandte sich jetzt ein
Lerr, der bis dahin gelesen hatte,
an den Berliner.
„Sie meinen dieZollbeamten?"
lachte der. „Ja, ich bin öfter hier gefahren — meine Firma baut
drüben ein Wasserwerk — Gott, man triffts ganz verschieden: ein-
mal wird überhaupt nichts angesehen, und dann kann man es wieder
erleben, daß sie einem die Brieftasche aus dem Nock nehmen und
das Futter abtasten oder einen die Stiefel ausziehen lassen."
Alle drehten sich dem Berliner zu. In jedem Gesicht war eine
gewisse Spannung.
„Ist es wahr," sagte die Kölnerin, „ist es tatsächlich wahr, daß
es Kabinen für Damen gibt? And . . ."
Der Sachse schnitt durch eine Landbewegung ihre besorgten
Fragen ab. In dieser Landbewegung lag zielbewußte Sachlichkeit.
„Genn'ch!" sagte er. „Das sin Berioden: mal sin se scharf und
mal widd'r nich. Gloom' Se, daß mir nu grade in ne scharfe Beriode
neingomm' ?"
Der Berliner zuckte die Achseln. Statt seiner antwortete die
elegante Dame mit dem Blumenstrauß, die wieder eingetreten war,
als der Sachse zu reden anfing.
„Die Kontrolle ist seit voriger Woche besonders verschärft," sagte
sie. And sie fügte nach einer Weile, während diese Worte wirkten,
leise hinzu: „Gott sei Dank, mir kann nichts passieren!"
„Wieso d'n nich?" erkundigte sich der Leipziger.
Die elegante Dame, die jetzt ruhiger schien, sah gleichsam prü-
fend von einem zum andern, ehe sie antwortete: „Der Blumenstrauß."
Kosend barg sie die eine Wange in den frischen Blumen.
Ein allgemeines Lm! war die Antwort.
„Wenn man zusammen in einem Abteil die Grenze überschreitet,"
fuhr die Dame fort, „dann bildet man eine Schicksalsgemeinschaft."
334
„Auskezeichned!" pflichtete der Sachse bei.
„Zu verbergen hat jeder etwas. Darum bin ich auf den Trick
mit dem Blumenstrauß gekommen. Er läßt sich nur ausführen, wenn
der Zug in der Richtung fährt wie der unsre. Auf der einen Seite
fällt nämlich direkt an den Schienen der Berg steil ab, gut 40 Meter
tief. Nun, sehen Sie: hier in diesem Strauß ist eine Blechkapsel
verborgen, die meine geringe Barschaft enthält — man kann das
Geld drüben gut brauchen, nicht wahr? Ich werfe nun den Blumen-
strauß aus dem Fenster hinunter in die Wiese. Warum? Das will
ich Ihnen sagen: Blumen müssen verzollt werden. Darum findet
kein Grenzbeamter etwas dabei, wenn er meinen Strauß hinunter-
fliegen sieht."
„And die Blechkapsel? und Ihr Geld?" fragte man durcheinander.
Die Dame öffnete ihr Land-
täschchen und holte ein kleines
Knäuel schwarzen starken Fadens
daraus hervor, dessen eines Ende
sie geschickt um die Blumenstiele
schlang.
„Da haben Sie das ganze
Geheimnis, meine Herrschaften.
Ich ziehe die Blumen im letzten
Moment wieder herauf. Aebri-
gens sind wir in 5 Minuten an
der Grenze."
„Großard'ch!" bewunderte der
Leipziger. „Ahwer unforstchd'ch sin
Sie,Frailein! Na,ichsageja nischd"
— er griff in seine Brusttasche —
„wenn Sie so guhd sein wollen un
mein Schweichegeld ooch in Ihre
Gabbs'l schdegg'n?"
„Aber gern!"
„Wie aufregend!" sagte die
Kölnerin. „Darf ich Sie bitten,
von mir auch 300 Mark mit hin-
ein zu tun?"
Es meldeten sich noch mehr
Interessenten.
„Einen Augenblick," lächelte die elegante Dame, „ich muß mir
nur die Summen mal eben notieren. And wenn es soweit ist, sind
Sie vielleicht so freundlich, den Faden in die Land zu nehmen und
ganz unauffällig dabei am Fenster eine Zigarette zu rauchen." Sie
sagte das zu der Kölnerin. „Ich werde aufpassen, wenn die Beamten
kommen."
Der Zug hielt mit einem Ruck.
„Spielen wir einen Skat auf meiner Neisedecke!" schlug der
Berliner vor. „Sowas sieht immer harmlos aus."
Alles klappte vorzüglich. Ein Zollbeamter machte die Türe auf,
fragte kurz und verschwand wieder. Die Kölnerin am Fenster beugte
sich zurück und sah die elegante Dame fragend an. „Soll ich hinauf-
ziehen?" hieß der Blick.
„Noch nicht!" bedeutete das kurze Kopfschütteln.
Dann stand die elegante Dame auf.
„Jetzt darf man hinaus," sagte sie, „ich will sehen, ob sie nicht
etwa zurückkommen."
Die Lerren spielten für alle Fälle weiter. Plötzlich ruckte der
Zug an.
„Was tun Sie?" rief die Kölnerin zum Fenster hinaus und
taumelte ins Abteil zurück.
Die Lerren sprangen auf. Karten wirbelten durch die Luft.
Der Sachse fing das schwankende Mädchen auf. Die Kölnerin hielt
krampfhaft ein knapp zwei Meter langes Stück schwarzen Faden
in der Land.
Der Zug fuhr schnell an.
„Sie hat den Faden abgeschnitten I" sagte die Kölnerin.
Werk/Gegenstand/Objekt
Pool: UB Fliegende Blätter
Titel
Titel/Objekt
"Der Trick"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Fliegende Blätter
Sachbegriff/Objekttyp
Inschrift/Wasserzeichen
Aufbewahrung/Standort
Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Inv. Nr./Signatur
G 5442-2 Folio RES
Objektbeschreibung
Maß-/Formatangaben
Auflage/Druckzustand
Werktitel/Werkverzeichnis
Herstellung/Entstehung
Entstehungsdatum
um 1934
Entstehungsdatum (normiert)
1929 - 1939
Entstehungsort (GND)
Auftrag
Publikation
Fund/Ausgrabung
Provenienz
Restaurierung
Sammlung Eingang
Ausstellung
Bearbeitung/Umgestaltung
Thema/Bildinhalt
Thema/Bildinhalt (GND)
Literaturangabe
Rechte am Objekt
Aufnahmen/Reproduktionen
Künstler/Urheber (GND)
Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
In Copyright (InC) / Urheberrechtsschutz
Creditline
Fliegende Blätter, 181.1934, Nr. 4660, S. 334
Beziehungen
Erschließung
Lizenz
CC0 1.0 Public Domain Dedication
Rechteinhaber
Universitätsbibliothek Heidelberg