Die Tablette
Ich hätte für Schwe-
ster Flatulentia gern
alles getan. Nur das
eine nicht: nur nicht
Tabletten schlucken!
Es herrschte zwischen
der Schwester und mir
lange Zeit ein gutes
Einverständnis. Sie
war so schön, so lieb, so
hold, wie ältere Dichter
gesagt haben würden.
Ich habe oft geklingelt,
wenn ich wußte, daß sie
Nachtdienst hatte, nur
um sie Hereinschweben
zu sehen. Ich habe für
sie lächelnd Olivenöl in
rauhen Mengen ge-
trunken und allerhand
andere unsympathische
Dinge wie Magen-
schläuche und Zwölf-
fingerdarmsonden ge-
schluckt — aber als sie
eines Tages verlangte,
ich solle eine Tablette
nehmen, da ahnte ich,
daß das Ende unsrer
Freundschaft gekom-
men war.
„Ich kann keine Tab-
letten nehmen, Schwe-
ster," sagte ich.
Schwester Flatulentia sah mich an. Ihr sanfter Blick wurde
stahlhart wie eine Extraanfertigung von Krupp, ein Steinadler hätte
vor diesem Blick die Augen geschloffen.
„Lächerlich!" sagte Schwester Flatulentia.
„Schwester — I"
„Sie werden dieTablette nehmen," entschied sie, „sogar ohne Wasser,
und zwar in meiner Gegenwart! Ich komme in lv Minuten wieder."
„Ohne Wasser?" fragte ich. „Aber womit soll ich denn-?"
Die Schwester ergriff das Trinkglas mit Zitronenlimonade und
rauschte hinaus.
„Sammeln Sie Spucke!" sagte sie.
Ich bin sehr weichherzig und nachgiebig und suchte mich mit dem
Gedanken vertraut zu machen, daß ich eine Tablette nehmen müsse.
Ich habe in solchen Momenten keine Spucke. Sie bleibt mir einfach
weg. Wie das kommt, weiß ich nicht. Ich war schon in meiner Jugend
in diesen Sachen anerkannter Meister. JA konnte stundenlang spucken
und habe sogar einmal den ersten Preis im Zielspucken auf einen
schmalen Pfahl durch einen engen Ring hindurch gewonnen. Ich
hielt den Rekord im Schlucken von ganzen hartgekochten Eiern. Nur
Tabletten gingen nie hinunter. Wie mit Widerhaken klebt auch die
kleinste Tablette an meinem Gaumen fest.
Ich überlegte, daß irgend etwas dabei nicht stimmen könne. Ich
war ja imstande, halbdaumengroße Stücke Fleisch glatt zu bewältigen.
Es war eines Versuches wert. Dank der mir zuteil gewordenen
Krankenhausbehandlung traute ich mir schon allerlei zu. Rasch ent-
schlossen riß ich einen Knopf von meinem Schlafanzug los, befestigte
ihn an einem längeren Bindfaden — hupp! der Knopf war unten.
Bloß beim Äinaufziehen hatte ich einige Schwierigkeiten. Das zweite
Mal ging es aber schon ganz gut.
Ich band den Knopf wieder los und schob ihn in den Mund.
Schwester Flatulentia trat ein. Sie hatte wieder den milden Blick.
Ich hätte jetzt Pferde für sie gestohlen.
„Dieser Zylinderhut, meine Äerrschaften,
ist unerschöpflich. Er kennt keine Leere."
Zuruf: „Setzen Sie'» mal uff Ihren Koppl"
„Nun?" sagte sie.
„Bitte!"
Sie gab mir die Tablette, ich steckte sie in den Mund. Schwester
Flatulentia sah mich lächelnd an. Ich vereinigte mühelos den Knopf
und die Tablette zu einem Bissen — ein kleiner Ruck, und ich spürte
den Knopf hinter meinem Brustbein abwärts wandern. Die Tablette
spürte ich nicht.
„Mund auf!" kommandierte Flatulentia und sah hinein.
Dann sagte sie: „Pfui! Wo haben Sie solche Tricks gelernt?
Tabletten an die Hintere Rachenwand zu kleben!"
Von diesem Tage an war ich für die Schwester Luft. Ja, weniger
als Luft. Ein Vakuum, sozusagen.
Ich habe ihr später mehrere von einem befreundeten Mediziner
herrührende Liebhaberaufnahmen des Pyjamaknopfes geschickt. Ein-
mal an face, das andere Mal Profil. Er sitzt in meinem Blinddarm.
Manchmal habe ich leise Beschwerden. Schwester Flatulentia hat nie
für die Aufnahmen gedankt, und Tabletten schlucken kann ich heute
noch nicht. Peter Kringel
Auf dem Fundbüro
„Ich habe meine Legitimation verloren. Sie lautet aus den
Namen Peter Müller!"
„Die ist gefunden worden! Können Sie sich legitimieren?"
Die Eiche
Im letzten Sommer fuhr ich einmal als einziger Fahrgast in
einer Motorpost. Etwa auf halber Strecke, gerade in einem Dörf-
chen, ging die Karre nicht weiter. Der Fahrer polkte am Motor
herum, erklärte, da säße wohl der Deiwel drin, und dagegen könnte
er nichts machen; in zwei Stunden käme der nächste Wagen, und
mit dem könnte ich dann weiter fahren. Ich will nicht die Vermu-
tung aufstellen, daß er sich vielleicht doch mehr Mühe gegeben hätte,
wenn er den Wagen voller Fahrgäste gehabt hätte. Aber unange-
nehm schien ihm die Panne nicht zu sein; er unterhielt sich herzlich mit
einer jungen weiblichen Bekanntschaft, die sich bald eingefunden hatte.
Der Ort, wie sich herausstellte, hieß Strunzmühl. Vor dem
Wirtshause saßen vier Männer, beschäftigungs- aber auch genußlos.
„Aber Lerr Kandidat, die Klage wegen Bruchs des Ehever-
sprechens gibt es doch nicht bei uns. Sie scheinen zu meinen, man kann
bei uns die Erfüllung eines Eheversprechens zu erzwingen suchen."
„Ja, Lerr Geheimrat-ich habe solch eine Braut."
207
Ich hätte für Schwe-
ster Flatulentia gern
alles getan. Nur das
eine nicht: nur nicht
Tabletten schlucken!
Es herrschte zwischen
der Schwester und mir
lange Zeit ein gutes
Einverständnis. Sie
war so schön, so lieb, so
hold, wie ältere Dichter
gesagt haben würden.
Ich habe oft geklingelt,
wenn ich wußte, daß sie
Nachtdienst hatte, nur
um sie Hereinschweben
zu sehen. Ich habe für
sie lächelnd Olivenöl in
rauhen Mengen ge-
trunken und allerhand
andere unsympathische
Dinge wie Magen-
schläuche und Zwölf-
fingerdarmsonden ge-
schluckt — aber als sie
eines Tages verlangte,
ich solle eine Tablette
nehmen, da ahnte ich,
daß das Ende unsrer
Freundschaft gekom-
men war.
„Ich kann keine Tab-
letten nehmen, Schwe-
ster," sagte ich.
Schwester Flatulentia sah mich an. Ihr sanfter Blick wurde
stahlhart wie eine Extraanfertigung von Krupp, ein Steinadler hätte
vor diesem Blick die Augen geschloffen.
„Lächerlich!" sagte Schwester Flatulentia.
„Schwester — I"
„Sie werden dieTablette nehmen," entschied sie, „sogar ohne Wasser,
und zwar in meiner Gegenwart! Ich komme in lv Minuten wieder."
„Ohne Wasser?" fragte ich. „Aber womit soll ich denn-?"
Die Schwester ergriff das Trinkglas mit Zitronenlimonade und
rauschte hinaus.
„Sammeln Sie Spucke!" sagte sie.
Ich bin sehr weichherzig und nachgiebig und suchte mich mit dem
Gedanken vertraut zu machen, daß ich eine Tablette nehmen müsse.
Ich habe in solchen Momenten keine Spucke. Sie bleibt mir einfach
weg. Wie das kommt, weiß ich nicht. Ich war schon in meiner Jugend
in diesen Sachen anerkannter Meister. JA konnte stundenlang spucken
und habe sogar einmal den ersten Preis im Zielspucken auf einen
schmalen Pfahl durch einen engen Ring hindurch gewonnen. Ich
hielt den Rekord im Schlucken von ganzen hartgekochten Eiern. Nur
Tabletten gingen nie hinunter. Wie mit Widerhaken klebt auch die
kleinste Tablette an meinem Gaumen fest.
Ich überlegte, daß irgend etwas dabei nicht stimmen könne. Ich
war ja imstande, halbdaumengroße Stücke Fleisch glatt zu bewältigen.
Es war eines Versuches wert. Dank der mir zuteil gewordenen
Krankenhausbehandlung traute ich mir schon allerlei zu. Rasch ent-
schlossen riß ich einen Knopf von meinem Schlafanzug los, befestigte
ihn an einem längeren Bindfaden — hupp! der Knopf war unten.
Bloß beim Äinaufziehen hatte ich einige Schwierigkeiten. Das zweite
Mal ging es aber schon ganz gut.
Ich band den Knopf wieder los und schob ihn in den Mund.
Schwester Flatulentia trat ein. Sie hatte wieder den milden Blick.
Ich hätte jetzt Pferde für sie gestohlen.
„Dieser Zylinderhut, meine Äerrschaften,
ist unerschöpflich. Er kennt keine Leere."
Zuruf: „Setzen Sie'» mal uff Ihren Koppl"
„Nun?" sagte sie.
„Bitte!"
Sie gab mir die Tablette, ich steckte sie in den Mund. Schwester
Flatulentia sah mich lächelnd an. Ich vereinigte mühelos den Knopf
und die Tablette zu einem Bissen — ein kleiner Ruck, und ich spürte
den Knopf hinter meinem Brustbein abwärts wandern. Die Tablette
spürte ich nicht.
„Mund auf!" kommandierte Flatulentia und sah hinein.
Dann sagte sie: „Pfui! Wo haben Sie solche Tricks gelernt?
Tabletten an die Hintere Rachenwand zu kleben!"
Von diesem Tage an war ich für die Schwester Luft. Ja, weniger
als Luft. Ein Vakuum, sozusagen.
Ich habe ihr später mehrere von einem befreundeten Mediziner
herrührende Liebhaberaufnahmen des Pyjamaknopfes geschickt. Ein-
mal an face, das andere Mal Profil. Er sitzt in meinem Blinddarm.
Manchmal habe ich leise Beschwerden. Schwester Flatulentia hat nie
für die Aufnahmen gedankt, und Tabletten schlucken kann ich heute
noch nicht. Peter Kringel
Auf dem Fundbüro
„Ich habe meine Legitimation verloren. Sie lautet aus den
Namen Peter Müller!"
„Die ist gefunden worden! Können Sie sich legitimieren?"
Die Eiche
Im letzten Sommer fuhr ich einmal als einziger Fahrgast in
einer Motorpost. Etwa auf halber Strecke, gerade in einem Dörf-
chen, ging die Karre nicht weiter. Der Fahrer polkte am Motor
herum, erklärte, da säße wohl der Deiwel drin, und dagegen könnte
er nichts machen; in zwei Stunden käme der nächste Wagen, und
mit dem könnte ich dann weiter fahren. Ich will nicht die Vermu-
tung aufstellen, daß er sich vielleicht doch mehr Mühe gegeben hätte,
wenn er den Wagen voller Fahrgäste gehabt hätte. Aber unange-
nehm schien ihm die Panne nicht zu sein; er unterhielt sich herzlich mit
einer jungen weiblichen Bekanntschaft, die sich bald eingefunden hatte.
Der Ort, wie sich herausstellte, hieß Strunzmühl. Vor dem
Wirtshause saßen vier Männer, beschäftigungs- aber auch genußlos.
„Aber Lerr Kandidat, die Klage wegen Bruchs des Ehever-
sprechens gibt es doch nicht bei uns. Sie scheinen zu meinen, man kann
bei uns die Erfüllung eines Eheversprechens zu erzwingen suchen."
„Ja, Lerr Geheimrat-ich habe solch eine Braut."
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Werk/Gegenstand/Objekt
Pool: UB Fliegende Blätter
Titel
Titel/Objekt
"Zylinderhut" "Eheversprechen"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Fliegende Blätter
Sachbegriff/Objekttyp
Inschrift/Wasserzeichen
Aufbewahrung/Standort
Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Inv. Nr./Signatur
G 5442-2 Folio RES
Objektbeschreibung
Kommentar
H. Ludwig
Maß-/Formatangaben
Auflage/Druckzustand
Werktitel/Werkverzeichnis
Herstellung/Entstehung
Künstler/Urheber/Hersteller (GND)
Entstehungsdatum
um 1935
Entstehungsdatum (normiert)
1930 - 1940
Entstehungsort (GND)
Auftrag
Publikation
Fund/Ausgrabung
Provenienz
Restaurierung
Sammlung Eingang
Ausstellung
Bearbeitung/Umgestaltung
Thema/Bildinhalt
Thema/Bildinhalt (GND)
Literaturangabe
Rechte am Objekt
Aufnahmen/Reproduktionen
Künstler/Urheber (GND)
Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
In Copyright (InC) / Urheberrechtsschutz
Creditline
Fliegende Blätter, 183.1935, Nr. 4678, S. 207
Beziehungen
Erschließung
Lizenz
CC0 1.0 Public Domain Dedication
Rechteinhaber
Universitätsbibliothek Heidelberg