Beinahe ein Fall von Erpressung V°nP°rerR°b.ns°n
Es ist am Spätnachmittag eines schönen Frühlingstages. Der
Nechnungsrat im Ruhestande Philipp Baukert sitzt an einem Fenster
seiner im Erdgeschoß gelegenen Wohnung und sieht auf die Straße
hinaus, was ihn angenehm zerstreut. Er sitzt in einem bequemen Sessel
so behaglich wie möglich, aber dem Möglichen ist in seinem Falle
eine Grenze gesetzt, denn er muß dabei das linke Bein hoch gelagert
auf einem Stuhl liegen haben — gichtischer Beschwerden halber, die
er aber als eine der weniger schlimmen Alterserscheinungen mit der
Ruhe des Weisen hinnimmt. Wenigstens kommt er sich bei solchem
Verhalten weise vor.
Frau Baukert ist nicht zu Lause. Sie ist in ein Damenkränzchen
gegangen, und da die Damen nach-
her noch gemeinsam ein Kino besuchen
werden, wird sie erst spät heimkom-
men. Aber sie hat für den Gatten
gesorgt: zum Abendessen hat sie ihm
zwei Soleier, die der Rechnungsrat
leidenschaftlich gern ißt, Schinken,
Butter und Brot hingestellt. Was
will der Mensch mehr! And Philipp
Baukert freut sich auch wirklich schon
auf diese köstliche Mahlzeit. Nachher
wird er bann, wie ihm die Gattin
geraten hat, bald in sein Bett gehen
und da vielleicht noch etwas lesen.
Der Tag ist angenehm warm ge-
wesen. Aber jetzt weht es schon etwas
kühler, und dann wird es wohl auch
in der nicht mehr geheizten Wohnung,
wie das so in den Abendstunden der
Aebergangszeit ist, ein klein wenig
ungemütlich werden. Baukert fröstelt
schon jetzt bei dem Gedanken. Bei
diesem Frösteln und dem Bewußtsein,
nicht unter der Aufsicht der Gattin
zu sein, keimt ein Wunsch in ihm, der
ihn im Zusammenhang mit den gich-
tischen Beschwerden nicht mehr so
weise erscheinen läßt: Baukert wünscht
Grog zu trinken, strammen Grog. Von
solchen Genüssen hat ihm sein Arzt
wegen des Beines abgeraten, und erst
recht die Gattin würde mit Grog nicht
einverstanden sein, nicht einmal mit
ganz schwachem. Aber die Gelegenheit
macht nicht nur Diebe; sie führt auch,
was freilich harmloser ist, zu kleinen
alkoholischen Ausschreitungen. Die Ge-
legenheit ist da — Baukert will sie
benutzen.
Die Gelegenheit ist da, aber kein
Rum, Arak oder Kognak. Baukertsteht
auf, humpelt ächzend an das Büffet,
findet eine geeignete Flasche mit Stöp-
sel, nimmt wieder am Fenster Platz und paßt nun auf alle vorüber-
gehenden Jungen auf. Der ist zu klein und jener zu groß — er wird
selber wohl schon stärkeren Trunk genossen haben. Dieser sieht zu
dumm aus und jener nicht ehrlich genug-aber da: ja, das ist
der Rechte! Ein vielleicht zwölfjähriger Junge kommt an mit einem
gescheiten und Vertrauen erweckenden Gesicht; außerdem pfeift er,
was Baukert gefällt, den Lohenfriedberger Marsch.
Baukert lehnt sich aus dem Fenster. „Lallo! Löre mal, mein
Zunge: willst du dir zwei Groschen verdienen?"
„Ra, und ob!" sagt der Junge. „Was soll ich denn für Sie holen?"
Der Zunge ist also wirklich gescheit; er hat gleich gemerkt, daß der
anscheinend etwas hilflose Lerr eine Besorgung wünscht.
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Baukert reicht ihm die Flasche und ein Markstück. „Paß auf, mein
Zunge: Geh geradeaus und rechts um die Ecke, dann kommst du ein
paar Läufer weiter an eine Destillation. Da läßt du dir für eine
Mark vom besten Rum in die Flasche füllen. And wenn du sie mir
dann bringst, kriegst du zwei Groschen."
„Wird gemacht!" sagt der Junge und läuft ab. Baukert hat es
nicht für angezeigt gehalten, ihn zu getreuer Erfüllung der über-
nommenen Pflicht und ehrlicher Verwendung des anvertrauten Geldes
zu ermahnen. Denn wenn der Junge wirklich so anständig ist, wie
er aussieht, würde ihn das ja kränken; wenn er aber nicht anständig
ist, hätte es keinen Zweck; ja, es könnte ihn gerade auf den Gedanken
bringen, zu unterschlagen und sich nicht mehr sehen zu lassen. Aber
Baukert glaubt, Menschenkenntnis zu haben und sich auch auf Zungen
zu verstehen. Es ist ganz sicher: der
Zunge wird mit dem Rum kommen.
Der Junge kommt aber nicht. Rach
fünf Minuten denkt Baukert: „Jetzt
muß er bald da sein!" Rach zehn
Minuten meint er: „Das dauert lange!
Run ja, der Junge wird nicht gleich
bedient; da kommen auch noch andre
Leute an, und Kinder läßt man immer
warten." Rach fünfzehn Minuten über-
legt Baukert: „Sollte ich mich doch
in dem Bengel getäuscht haben?" Rach
zwanzig Minuten ist er gewiß: „Ver-
flucht! Ich habe mich in der verdamm-
ten Range geirrt!" Aber noch eine
ganze Stunde bleibt er am offenen
Fenster, obwohl es nun für ihn doch
zu kühl wird. Dann zieht er sich zu-
rück, der verdorbenen Jugend grollend
und verbittert, weil er um die schöne
Aussicht auf Grog betrogen ist; er ißt
sein Abendbrot, das ihm jetzt doch nicht
so schmeckt, und geht ins Bett. Am
11 Ahr kommt Frau Emilie Baukert
nach Lause; sie hat einen ausgezeich-
neten — wenigstens findet sie das! —
Kriminalfilm gesehen, ist sehr guter
Laune und gibt dem Gatten noch einen
Kuß, weil sie ihn so allein gelassen
hat. Baukert denkt: „Ra, am Ende ist
es doch ganz gut, daß der verfluchte
Bengel nicht wiedergekommen ist; sonst
hätte sie jetzt am Ende was gerochen."
And mit diesem tröstenden Gedanken
schläft er ein.
Der nächste Tag ist ein Sonntag.
Da ist die Straße wenig belebt; es
gibt nichts Besonderes zu sehen, aber
der Rechnungsrat im Ruhestände
Philipp Baukert setzt sich doch schon
nach dem Frühstück ans offene Fenster,
weil die Sonne wieder so schön scheint
und ihm wohltut. Daß er dabei hin und wieder an das betrübende
Erlebnis mit dem unehrlichen Jungen denken muß, stört sein Behagen
etwas, ist aber selbstverständlich; Leute im Ruhestande, die nicht mehr
an wichtigere Dinge zu denken haben, können einen Gedanken nicht
so leicht wegschieben.
Da kommt ein Mann die Straße entlang, der einen ihm ersicht-
lich unbequemen Sonntagsanzug trägt und auf dem Kopf eine gleich-
falls ihm ungewohnte Melone und im Munde eine ebenso für ihn
seltene Feiertagszigarre hat. Der Mann sieht alle Läufer an, bemerkt
den Rechnungsrat a. D. Philipp Baukert an seinem Fenster, nickt
zufrieden und tritt auf dieses, jedenfalls von ihm gesuchte Fenster
IForlsetzung Sette 231)
Nachtwandeln ist Lerrn Müllers Lust,
Auch Luber und Lerr Bornslein
Nachts promenieren im August
Mit Schlußlicht um den Schornstein.
Es ist am Spätnachmittag eines schönen Frühlingstages. Der
Nechnungsrat im Ruhestande Philipp Baukert sitzt an einem Fenster
seiner im Erdgeschoß gelegenen Wohnung und sieht auf die Straße
hinaus, was ihn angenehm zerstreut. Er sitzt in einem bequemen Sessel
so behaglich wie möglich, aber dem Möglichen ist in seinem Falle
eine Grenze gesetzt, denn er muß dabei das linke Bein hoch gelagert
auf einem Stuhl liegen haben — gichtischer Beschwerden halber, die
er aber als eine der weniger schlimmen Alterserscheinungen mit der
Ruhe des Weisen hinnimmt. Wenigstens kommt er sich bei solchem
Verhalten weise vor.
Frau Baukert ist nicht zu Lause. Sie ist in ein Damenkränzchen
gegangen, und da die Damen nach-
her noch gemeinsam ein Kino besuchen
werden, wird sie erst spät heimkom-
men. Aber sie hat für den Gatten
gesorgt: zum Abendessen hat sie ihm
zwei Soleier, die der Rechnungsrat
leidenschaftlich gern ißt, Schinken,
Butter und Brot hingestellt. Was
will der Mensch mehr! And Philipp
Baukert freut sich auch wirklich schon
auf diese köstliche Mahlzeit. Nachher
wird er bann, wie ihm die Gattin
geraten hat, bald in sein Bett gehen
und da vielleicht noch etwas lesen.
Der Tag ist angenehm warm ge-
wesen. Aber jetzt weht es schon etwas
kühler, und dann wird es wohl auch
in der nicht mehr geheizten Wohnung,
wie das so in den Abendstunden der
Aebergangszeit ist, ein klein wenig
ungemütlich werden. Baukert fröstelt
schon jetzt bei dem Gedanken. Bei
diesem Frösteln und dem Bewußtsein,
nicht unter der Aufsicht der Gattin
zu sein, keimt ein Wunsch in ihm, der
ihn im Zusammenhang mit den gich-
tischen Beschwerden nicht mehr so
weise erscheinen läßt: Baukert wünscht
Grog zu trinken, strammen Grog. Von
solchen Genüssen hat ihm sein Arzt
wegen des Beines abgeraten, und erst
recht die Gattin würde mit Grog nicht
einverstanden sein, nicht einmal mit
ganz schwachem. Aber die Gelegenheit
macht nicht nur Diebe; sie führt auch,
was freilich harmloser ist, zu kleinen
alkoholischen Ausschreitungen. Die Ge-
legenheit ist da — Baukert will sie
benutzen.
Die Gelegenheit ist da, aber kein
Rum, Arak oder Kognak. Baukertsteht
auf, humpelt ächzend an das Büffet,
findet eine geeignete Flasche mit Stöp-
sel, nimmt wieder am Fenster Platz und paßt nun auf alle vorüber-
gehenden Jungen auf. Der ist zu klein und jener zu groß — er wird
selber wohl schon stärkeren Trunk genossen haben. Dieser sieht zu
dumm aus und jener nicht ehrlich genug-aber da: ja, das ist
der Rechte! Ein vielleicht zwölfjähriger Junge kommt an mit einem
gescheiten und Vertrauen erweckenden Gesicht; außerdem pfeift er,
was Baukert gefällt, den Lohenfriedberger Marsch.
Baukert lehnt sich aus dem Fenster. „Lallo! Löre mal, mein
Zunge: willst du dir zwei Groschen verdienen?"
„Ra, und ob!" sagt der Junge. „Was soll ich denn für Sie holen?"
Der Zunge ist also wirklich gescheit; er hat gleich gemerkt, daß der
anscheinend etwas hilflose Lerr eine Besorgung wünscht.
228
Baukert reicht ihm die Flasche und ein Markstück. „Paß auf, mein
Zunge: Geh geradeaus und rechts um die Ecke, dann kommst du ein
paar Läufer weiter an eine Destillation. Da läßt du dir für eine
Mark vom besten Rum in die Flasche füllen. And wenn du sie mir
dann bringst, kriegst du zwei Groschen."
„Wird gemacht!" sagt der Junge und läuft ab. Baukert hat es
nicht für angezeigt gehalten, ihn zu getreuer Erfüllung der über-
nommenen Pflicht und ehrlicher Verwendung des anvertrauten Geldes
zu ermahnen. Denn wenn der Junge wirklich so anständig ist, wie
er aussieht, würde ihn das ja kränken; wenn er aber nicht anständig
ist, hätte es keinen Zweck; ja, es könnte ihn gerade auf den Gedanken
bringen, zu unterschlagen und sich nicht mehr sehen zu lassen. Aber
Baukert glaubt, Menschenkenntnis zu haben und sich auch auf Zungen
zu verstehen. Es ist ganz sicher: der
Zunge wird mit dem Rum kommen.
Der Junge kommt aber nicht. Rach
fünf Minuten denkt Baukert: „Jetzt
muß er bald da sein!" Rach zehn
Minuten meint er: „Das dauert lange!
Run ja, der Junge wird nicht gleich
bedient; da kommen auch noch andre
Leute an, und Kinder läßt man immer
warten." Rach fünfzehn Minuten über-
legt Baukert: „Sollte ich mich doch
in dem Bengel getäuscht haben?" Rach
zwanzig Minuten ist er gewiß: „Ver-
flucht! Ich habe mich in der verdamm-
ten Range geirrt!" Aber noch eine
ganze Stunde bleibt er am offenen
Fenster, obwohl es nun für ihn doch
zu kühl wird. Dann zieht er sich zu-
rück, der verdorbenen Jugend grollend
und verbittert, weil er um die schöne
Aussicht auf Grog betrogen ist; er ißt
sein Abendbrot, das ihm jetzt doch nicht
so schmeckt, und geht ins Bett. Am
11 Ahr kommt Frau Emilie Baukert
nach Lause; sie hat einen ausgezeich-
neten — wenigstens findet sie das! —
Kriminalfilm gesehen, ist sehr guter
Laune und gibt dem Gatten noch einen
Kuß, weil sie ihn so allein gelassen
hat. Baukert denkt: „Ra, am Ende ist
es doch ganz gut, daß der verfluchte
Bengel nicht wiedergekommen ist; sonst
hätte sie jetzt am Ende was gerochen."
And mit diesem tröstenden Gedanken
schläft er ein.
Der nächste Tag ist ein Sonntag.
Da ist die Straße wenig belebt; es
gibt nichts Besonderes zu sehen, aber
der Rechnungsrat im Ruhestände
Philipp Baukert setzt sich doch schon
nach dem Frühstück ans offene Fenster,
weil die Sonne wieder so schön scheint
und ihm wohltut. Daß er dabei hin und wieder an das betrübende
Erlebnis mit dem unehrlichen Jungen denken muß, stört sein Behagen
etwas, ist aber selbstverständlich; Leute im Ruhestande, die nicht mehr
an wichtigere Dinge zu denken haben, können einen Gedanken nicht
so leicht wegschieben.
Da kommt ein Mann die Straße entlang, der einen ihm ersicht-
lich unbequemen Sonntagsanzug trägt und auf dem Kopf eine gleich-
falls ihm ungewohnte Melone und im Munde eine ebenso für ihn
seltene Feiertagszigarre hat. Der Mann sieht alle Läufer an, bemerkt
den Rechnungsrat a. D. Philipp Baukert an seinem Fenster, nickt
zufrieden und tritt auf dieses, jedenfalls von ihm gesuchte Fenster
IForlsetzung Sette 231)
Nachtwandeln ist Lerrn Müllers Lust,
Auch Luber und Lerr Bornslein
Nachts promenieren im August
Mit Schlußlicht um den Schornstein.
Werk/Gegenstand/Objekt
Pool: UB Fliegende Blätter
Titel
Titel/Objekt
"Nachtwandeln ist Herrn Müllers Lust, ..."
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Fliegende Blätter
Sachbegriff/Objekttyp
Inschrift/Wasserzeichen
Aufbewahrung/Standort
Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Inv. Nr./Signatur
G 5442-2 Folio RES
Objektbeschreibung
Maß-/Formatangaben
Auflage/Druckzustand
Werktitel/Werkverzeichnis
Herstellung/Entstehung
Künstler/Urheber/Hersteller (GND)
Entstehungsdatum
um 1938
Entstehungsdatum (normiert)
1933 - 1943
Entstehungsort (GND)
Auftrag
Publikation
Fund/Ausgrabung
Provenienz
Restaurierung
Sammlung Eingang
Ausstellung
Bearbeitung/Umgestaltung
Thema/Bildinhalt
Thema/Bildinhalt (GND)
Literaturangabe
Rechte am Objekt
Aufnahmen/Reproduktionen
Künstler/Urheber (GND)
Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
In Copyright (InC) / Urheberrechtsschutz
Creditline
Fliegende Blätter, 189.1938, Nr. 4863, S. 228
Beziehungen
Erschließung
Lizenz
CC0 1.0 Public Domain Dedication
Rechteinhaber
Universitätsbibliothek Heidelberg