Die Ausnahme Von L. Klockenbusch
Tobias Genslein hätte einen sorgenfreien, behaglichen Lebensabend
genießen können,wenn er nicht gezwungen gewesen wäre, ständig seine
Lausangestellte zu wechseln. Lerr Genslein war durchaus nicht über-
mäßig anspruchsvoll, zahlte einen guten Lohn und ließ es auch an
freundlicher Behandlung seiner Wirtschafterin nicht fehlen. Dennoch
nahm der Aerger kein Ende. Kaum eine der zahllosen Laushälterin-
nen, die bei ihm beschäftigt gewesen
waren, hatte länger als einige Monate
im Bereiche der Gensleinschen Küche
gewaltet. Meistens hatte es schon nach
wenigen Tagen einen häßlichen Auf-
tritt mit anschließender Kündigung ge-
geben, und dann hatte wieder das ver-
drießliche Suchen nach einer neuen
Kraft begonnen. Einen weniger sanft-
mütigen Mann als Lerrn Genslein
hätten diese Dinge zum Menschenfeind
machen können.
Die Arsache all dieser Mißhellig-
keiten bestand in einer persönlichen
Eigenart Lerrn Gensleins. Er empfand
nämlich einen unüberwindlichen Ab-
scheu gegen eine Antugend, die nach
seiner Aeberzeugung nur Frauen eigen
war: Die Neugier! Die Feststellung,
daß seine jeweilige Laushälterin in
dieser Linsicht ebensowenig eine Aus-
nahme darstellte wie ihre Vorgängerin-
nen, genügte, seinen Zorn zu ent-
fesseln und die obengenannten Folgen
herbeizufllhren. And bislang war dieser
Ausnahmesall, der allen Anannehmlich-
keiten ein Ende bereitet hätte, nicht ein-
getreten. Lerr Genslein hatte mit allen
trübe Erfahrungen gemacht. Die eine
schwatzte zuviel mit anderen Laus-
angestellten in der Nachbarschaft, die
andere hatte ihn mit neugierigen Fra-
gen belästigt, eine dritte hatte an der
Tür gehorcht, und eine vierte war er-
tappt worden, als sie in seine, auf dem Schreibtisch herumliegenden
Papiere Einblick nahm. Jeden einzelnen Fall hatte Genslein mit der
Angabe des Grundes, der zur Kündigung geführt hatte, in ein Lest
eingetragen, das er in der Schublade seines Schreibtisches aufbe-
wahrte. Er gedachte, diese Eintragungen als Beweismaterial zu
verwenden, falls einmal einer seiner Bekannten die Vermutung aus-
sprechen sollte, er sei vielleicht an seinem Mißgeschick doch nicht ganz
schuldlos.
Wieder einmal hatte eine „Neue" ihren Einzug gehalten. Sie
hieß Adele Kluge und machte einen vortrefflichen Eindruck. Nach
wenigen Tagen bereits war Genslein davon überzeugt, eine tüchtige
Kraft gefunden zu haben. Ihr Fleiß, ihre Ordnungsliebe und Sau-
berkeit übertrafen alle Erwartungen, und ihre Kochkunst war über
jedes Lob erhaben. Mit Schaudern dachte Genslein an den Tag,
da sich Herausstellen würde, daß auch dieses Muster an Tüchtigkeit,
diese Verkörperung aller hauswirtschaftlichen Tugenden mit jener
Eigenschaft behaftet war, gegen die er
nun einmal eine fast krankhafte Ab-
neigung hatte. Lerr Genslein wußte,
daß es ihm trotz allem auch in diesem
Falle nicht gelingen würde, über eine
solche Entdeckung hinwegzusehen. And
er wußte, daß dieser Tag kommen
würde, denn er hatte es aufgegeben,
an die Möglichkeit einer Ausnahme
zu glauben.
Auch die Tatsache, daß er im Ver-
laufe der nächsten Wochen nicht den
geringsten Anlaß fand, Fräulein Adele
Kluge der verhaßten Antugend zu ver-
dächtigen, vermochte seine Aeberzeu-
gung nicht zu erschüttern. Seine Freude
darüber, daß ihm diese tüchtige Kraft
so lange erhalten blieb, wurde aller-
dings durch die Gewißheit, eines Tages
doch eine Enttäuschung zu erleben, er-
heblich beeinträchtigt. Schließlich be-
gann dieser ganz und gar ungewohnte
Zustand sogar, ihn ein wenig zu be-
unruhigen, so daß er beschloß, sich um
jeden Preis Gewißheit zu verschaffen.
Genslein ging, wenn er Besuch hatte,
bisweilen plötzlich zur Tür und öffnete
sie blitzschnell. Aber nie stand Adele
Kluge horchend davor. Genslein ließ
die Neugier reizende Papiere auf dem
Schreibtisch liegen, die er kaum merk-
lich ein wenig auf der Schreibtisch-
platte sestgeklebt hatte. Die Papiere
blieben, wie sich auf diese Weise leicht
feststellen ließ, unberührt, Henslein fragte Adele beiläufig, ob sie auch
schon bemerkt habe, daß Kühnemanns im zweiten Stock recht un-
freundliche Leute wären. „Das weiß ich nicht," sagte Adele darauf,
„ich bin nicht neugierig und kümmere mich nicht um die Angelegen-
heiten anderer Leute."
Seit diesem Tag begann Genslein einzusehen, daß es allen Er-
fahrungen zum Trotz doch hier und da eine Ausnahme zu geben
scheine. Es ereignete sich auch weiterhin nichts, was ihn hätte bewege»
(Fortsetzung Sette 340)
Ein Grammatiker „Erlaube mal, Tante Berta!
Die Märchen fangen freilich
alle an: Es war einmal. Aber du solltest das verbessern.
Richtig ist natürlich nur: Es ist einmal gewesen."
338
Tobias Genslein hätte einen sorgenfreien, behaglichen Lebensabend
genießen können,wenn er nicht gezwungen gewesen wäre, ständig seine
Lausangestellte zu wechseln. Lerr Genslein war durchaus nicht über-
mäßig anspruchsvoll, zahlte einen guten Lohn und ließ es auch an
freundlicher Behandlung seiner Wirtschafterin nicht fehlen. Dennoch
nahm der Aerger kein Ende. Kaum eine der zahllosen Laushälterin-
nen, die bei ihm beschäftigt gewesen
waren, hatte länger als einige Monate
im Bereiche der Gensleinschen Küche
gewaltet. Meistens hatte es schon nach
wenigen Tagen einen häßlichen Auf-
tritt mit anschließender Kündigung ge-
geben, und dann hatte wieder das ver-
drießliche Suchen nach einer neuen
Kraft begonnen. Einen weniger sanft-
mütigen Mann als Lerrn Genslein
hätten diese Dinge zum Menschenfeind
machen können.
Die Arsache all dieser Mißhellig-
keiten bestand in einer persönlichen
Eigenart Lerrn Gensleins. Er empfand
nämlich einen unüberwindlichen Ab-
scheu gegen eine Antugend, die nach
seiner Aeberzeugung nur Frauen eigen
war: Die Neugier! Die Feststellung,
daß seine jeweilige Laushälterin in
dieser Linsicht ebensowenig eine Aus-
nahme darstellte wie ihre Vorgängerin-
nen, genügte, seinen Zorn zu ent-
fesseln und die obengenannten Folgen
herbeizufllhren. And bislang war dieser
Ausnahmesall, der allen Anannehmlich-
keiten ein Ende bereitet hätte, nicht ein-
getreten. Lerr Genslein hatte mit allen
trübe Erfahrungen gemacht. Die eine
schwatzte zuviel mit anderen Laus-
angestellten in der Nachbarschaft, die
andere hatte ihn mit neugierigen Fra-
gen belästigt, eine dritte hatte an der
Tür gehorcht, und eine vierte war er-
tappt worden, als sie in seine, auf dem Schreibtisch herumliegenden
Papiere Einblick nahm. Jeden einzelnen Fall hatte Genslein mit der
Angabe des Grundes, der zur Kündigung geführt hatte, in ein Lest
eingetragen, das er in der Schublade seines Schreibtisches aufbe-
wahrte. Er gedachte, diese Eintragungen als Beweismaterial zu
verwenden, falls einmal einer seiner Bekannten die Vermutung aus-
sprechen sollte, er sei vielleicht an seinem Mißgeschick doch nicht ganz
schuldlos.
Wieder einmal hatte eine „Neue" ihren Einzug gehalten. Sie
hieß Adele Kluge und machte einen vortrefflichen Eindruck. Nach
wenigen Tagen bereits war Genslein davon überzeugt, eine tüchtige
Kraft gefunden zu haben. Ihr Fleiß, ihre Ordnungsliebe und Sau-
berkeit übertrafen alle Erwartungen, und ihre Kochkunst war über
jedes Lob erhaben. Mit Schaudern dachte Genslein an den Tag,
da sich Herausstellen würde, daß auch dieses Muster an Tüchtigkeit,
diese Verkörperung aller hauswirtschaftlichen Tugenden mit jener
Eigenschaft behaftet war, gegen die er
nun einmal eine fast krankhafte Ab-
neigung hatte. Lerr Genslein wußte,
daß es ihm trotz allem auch in diesem
Falle nicht gelingen würde, über eine
solche Entdeckung hinwegzusehen. And
er wußte, daß dieser Tag kommen
würde, denn er hatte es aufgegeben,
an die Möglichkeit einer Ausnahme
zu glauben.
Auch die Tatsache, daß er im Ver-
laufe der nächsten Wochen nicht den
geringsten Anlaß fand, Fräulein Adele
Kluge der verhaßten Antugend zu ver-
dächtigen, vermochte seine Aeberzeu-
gung nicht zu erschüttern. Seine Freude
darüber, daß ihm diese tüchtige Kraft
so lange erhalten blieb, wurde aller-
dings durch die Gewißheit, eines Tages
doch eine Enttäuschung zu erleben, er-
heblich beeinträchtigt. Schließlich be-
gann dieser ganz und gar ungewohnte
Zustand sogar, ihn ein wenig zu be-
unruhigen, so daß er beschloß, sich um
jeden Preis Gewißheit zu verschaffen.
Genslein ging, wenn er Besuch hatte,
bisweilen plötzlich zur Tür und öffnete
sie blitzschnell. Aber nie stand Adele
Kluge horchend davor. Genslein ließ
die Neugier reizende Papiere auf dem
Schreibtisch liegen, die er kaum merk-
lich ein wenig auf der Schreibtisch-
platte sestgeklebt hatte. Die Papiere
blieben, wie sich auf diese Weise leicht
feststellen ließ, unberührt, Henslein fragte Adele beiläufig, ob sie auch
schon bemerkt habe, daß Kühnemanns im zweiten Stock recht un-
freundliche Leute wären. „Das weiß ich nicht," sagte Adele darauf,
„ich bin nicht neugierig und kümmere mich nicht um die Angelegen-
heiten anderer Leute."
Seit diesem Tag begann Genslein einzusehen, daß es allen Er-
fahrungen zum Trotz doch hier und da eine Ausnahme zu geben
scheine. Es ereignete sich auch weiterhin nichts, was ihn hätte bewege»
(Fortsetzung Sette 340)
Ein Grammatiker „Erlaube mal, Tante Berta!
Die Märchen fangen freilich
alle an: Es war einmal. Aber du solltest das verbessern.
Richtig ist natürlich nur: Es ist einmal gewesen."
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Werk/Gegenstand/Objekt
Pool: UB Fliegende Blätter
Titel
Titel/Objekt
"Ein Grammatiker"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Fliegende Blätter
Sachbegriff/Objekttyp
Inschrift/Wasserzeichen
Aufbewahrung/Standort
Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Inv. Nr./Signatur
G 5442-2 Folio RES
Objektbeschreibung
Maß-/Formatangaben
Auflage/Druckzustand
Werktitel/Werkverzeichnis
Herstellung/Entstehung
Künstler/Urheber/Hersteller (GND)
Entstehungsdatum
um 1939
Entstehungsdatum (normiert)
1934 - 1944
Entstehungsort (GND)
Auftrag
Publikation
Fund/Ausgrabung
Provenienz
Restaurierung
Sammlung Eingang
Ausstellung
Bearbeitung/Umgestaltung
Thema/Bildinhalt
Thema/Bildinhalt (GND)
Literaturangabe
Rechte am Objekt
Aufnahmen/Reproduktionen
Künstler/Urheber (GND)
Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
In Copyright (InC) / Urheberrechtsschutz
Creditline
Fliegende Blätter, 190.1939, Nr. 4896, S. 338
Beziehungen
Erschließung
Lizenz
CC0 1.0 Public Domain Dedication
Rechteinhaber
Universitätsbibliothek Heidelberg