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Emil und der Regenwurm

Von Ralph Urban

Beide waren Lehrlinge im gleichen Betrieb. Lea zählte sechzehn
Lenze, Emil war um ein halbes Jahr älter. Seit dem letzten Be-
triebsausflug benahm sich der junge Mann ernst und würdevoll,
trug eine schillernde Krawatte aus reiner Seide und roch nach
Veilchen. Manchmal seuszte er sogar, und bei Betriebsschluß flitzte
er als erster in den Los zu seinem Fahrrad. Dort wartete er, bis
auch Lea ihr Rad holen kam, um sie dann nach Laus zu begleiten.

„Last du morgen vormittag Zeit, Lea?" fragte Emil am Sonn-
abend. Die Lehrlinge sagten einander du.

„Zeit?" meinte das Mädchen und bemühte sich, nachdenklich aus-
zusehen. „Warum?"

„Dann könnten wir nämlich einen Radausflug machen."

„Ja, das ginge," erklärte Lea und verbreitete damit Sonnenschein.

An diesem Abend stand Emil daheim vor dem Wandspiegel und
übte. „Leaaa," sprach er mit dunkler Stimme, „ich liebe dich. Werde
mein Weib." Das gefiel ihm aber nicht recht, und so übte er weiter.
In der Nacht schlief er unruhig. Als er wieder einmal munter
wurde, hörte er draußen den Regen plätschern. Tief unglücklich
schlief er daher weiter.

Am Morgen jedoch herrschte eitler
Sonnenschein. Schon um halb acht holte
Emil die Lea ab. Dann fuhren sie ins
Land hinaus. Sie radelten zwei Stunden
lang. An einem Waldesrand machten sie
Rast, lehnten ihre Räder an einen Baum
und setzten sich auf eine einsame Bank.

Nachdem sich Emil den Schweiß abge-
trocknet hatte, nahm er Anläufe.

„Lea," sagte er.

„Was denn?"

„Ach, nichts."

Schweigen.

„Lea," sagte er.

„Was denn?"

.Ach -

einen Kuß geben?"

„Laha — nein — haha —" antwortete
Lea. Emil seufzte tief und ließ die Un-
terlippe hängen. Als Fachmann hätte er
einfach gehandelt und nicht gefragt. Er
war aber eben Anfänger und litt. Außer-
dem hatte er noch nie ein Mädchen geküßt.

„Entschuldige vielmals," sagte er kalt.

„Bitte," sagte sie. „Schau dir diesen
großen Regenwurm da an. Was macht
er denn hier?"

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„Ich weiß nicht," antwortete Emil, „vielleicht sonnt er sich."
„Du," meinte das Mädchen, „ich habe gehört, daß man in China
Regenwürmer ißt. Ist das wahr?"

„Schon möglich."

„Vielleicht schmecken sie gut."

„Du kannst es ja versuchen," riet Emil.

„Ich? Nein. Würdest du dich getrauen?"

„Danke."

„Iö, wie feig du bist. Wenn du ein Kavalier wärest, würdest
du den Regenwurm essen."

„Ich? Wieso das?"

„Weil du dann von mir einen Kuß bekommen würdest. Sooo
einen Kuß." Emil starrte auf den Regenwurm, Leas Augen schil-
lerten grün vor Vergnügen.

„Ein Kavalier tut für einen Kuß alles," behauptete sie, „wenn
ihm an einem Mädchen auch nur so viel gelegen ist."

„Leaaa," entrang es sich stöhnend seinen Lippen, „und ich bekäme
einen Kuß, wenn ich —" „Klar."

Emil griff blitzschnell nach dem Re-
genwurm, schloß die Augen, empfahl
seine Seele allen Leiligen — und fort
war der Regenwurm.

„Brrrrr—" schüttelte sich Emil, nach-
dem er wieder die Augen geöffnet hatte.

„Nie wieder einen Regenwurm. Aber
jetzt, mein Lieb, küsse mich —"

„Pfui, nein."

„Waaas?" erstarrte der junge Mann.
„Du wirst doch nicht glauben, daß ich
einen Mann küsse, der eben einen Regen-
wurm gegessen hat. Außerdem ißt ein
Kavalier keinen Regenwurm."

Der Erkenntnisse letzte ist der Krieg.
Mit einem Wutschrei stürzte sich Emil auf
Leas Rad und riß die Ventile aus den
Reifen, so daß die Luft entzischte. Dann
schwang er sich auf sein Fahrrad und trat
mit Wucht in die Pedale. Lea hatte keine
Pumpe, die konnte jetzt gute vier Stun-
den bis nach Lause laufen. Er aber war
fertig mit den Weibern, nie wieder würde
er einer schönen Frau glauben und auch
keiner häßlichen. Von einsamer Löhe herab
würde er sie alle verachten. So jagte er
dahin in wilder Fahrt mit düsteren Ge-
danken und einem Regenwurm im Leib.
Bildbeschreibung

Werk/Gegenstand/Objekt

Titel

Titel/Objekt
"Die Macht der Gewohnheit"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Fliegende Blätter
Sachbegriff/Objekttyp
Grafik

Inschrift/Wasserzeichen

Aufbewahrung/Standort

Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Universitätsbibliothek Heidelberg
Inv. Nr./Signatur
G 5442-2 Folio RES

Objektbeschreibung

Maß-/Formatangaben

Auflage/Druckzustand

Werktitel/Werkverzeichnis

Herstellung/Entstehung

Künstler/Urheber/Hersteller (GND)
Frank, Hugo
Entstehungsdatum
um 1940
Entstehungsdatum (normiert)
1930 - 1950
Entstehungsort (GND)
München

Auftrag

Publikation

Fund/Ausgrabung

Provenienz

Restaurierung

Sammlung Eingang

Ausstellung

Bearbeitung/Umgestaltung

Thema/Bildinhalt

Thema/Bildinhalt (GND)
Karikatur
Satirische Zeitschrift
Regenschirm

Literaturangabe

Rechte am Objekt

Aufnahmen/Reproduktionen

Künstler/Urheber (GND)
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Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
In Copyright (InC) / Urheberrechtsschutz
Creditline
Fliegende Blätter, 193.1940, Nr. 4969, S. 194

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CC0 1.0 Public Domain Dedication
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