Wo Ist die Ostsee?
Albert war stolz. „Na also, was habe ich gesagt? Wir sind auf
dem richtigen Wege gewesen. Nu wollen wir uns mal die See
ansehen!"
Sie setzten sich hurtiger in Bewegung, überholten mich und liefen
beinahe, bis sie einen Punkt erreicht hatten, wo die Straße nur noch
etwa hundert Meter von dem See entfernt ist. Lier zieht sich ein
Wiesenstreifen entlang, auf dem gerade ein paar Kühe weideten.
Da standen sie nun und hielten Ausschau. Als ich ihnen nachgekommen
war, setzte ich mich im Grase nieder, tat, als müßte ich mir einen
Schuh zubinden, und hörte zu.
Der Großpapa war kritisch. Er erklärte: „Ich bin zwar noch nie
an der See gewesen, aber ich habe doch allerlei gelesen. Lier stiinmt
was nicht. Albert! Das ist doch kein weites Wasser. Sieh doch, da
kann man ja 'rüberkucken. Da drüben sind ja Läufer. And eine Wiese
so dicht an der See? Nee wirklich. Albert, da stimmt was nicht."
Das waren vernünftige Erwägungen, aber Albert lehnte sie mit
dem Achselzucken des Besserwissens ab. „Was soll hier nicht stim-
men? Ich bin auch noch nie an der See gewesen, aber ich kann mir
das hier ganz gut erklären. Das ist hier eben eine Bucht, 'ue ganz
kleine Bucht. Da ist alles schön geschützt, und darum kann hier
auch 'ne Wiese sein."
Die Tante wagte es, sich Großpapas Erwägungen anzuschließen.
„Merkwürdig, daß Kühe so unmittelbar an der See grasen!"
Albert blieb eigensinnig; er half sich mit einem faulen Witz:
„Na, das werden eben sogenannte Seekühe sein."
Aber die Jungen waren auch unzufrieden. „Lier is ja kein Sand,
Bater! Du hast doch gesagt, hier is lauter Sand, und da bauen wir
uns eine Burg, 'ne ganz große Burg."
Äierzu nickte Albert. „Stimmt; das wollen wir ja auch machen.
Aber hier an dieser kleinen Bucht is nu eben Gras. Der Sand wird
erst kommen, wenn wir noch 'n Stück weiter sind; da müssen wir
erst an der Bucht vorbei sein."
Der Großpapa schimpfte: „Blödsinnige Lauferei! Viel weiter gehe
ich nicht mehr. Albert!" And die Tante sagte etwas von unnötigen
Strapazen.
Damit war Albert einverstanden. „Mir gefüllt der weite Weg
auch nicht. Aber daran sind Lehmanns schuld; die haben uns ja so
dringend empfohlen, hierher zu fahren."
„Die Lehmann hat doch gesagt, sie haben bloß zwei Minuten
bis an den Strand gehabt," erinnerte Ernestine.
„So'n Schwindel!" knurrte Albert. „Aber es ist 'ne alte Sache:
auf solche Empfehlungen darf man nichts geben. Ja, Kinder, nu
sind wir mal hier-also weiter!"
Der Marsch wurde fortgesetzt. Beinahe wäre es vielleicht nicht
mehr dazu gekommen. Das kleine Mädchen hatte Durst; es wollte
trinken — von dem vielen Wasser wollte es trinken. „Nee, Lenchen,
das geht nicht!" belehrte der Vater. „Von dem Wasser kriegst du
noch mehr Durst; das ist ja Seewasser, das ist salzig." — „Au ja,
wollen mal probieren!" freuten sich die Jungen und wollten schon
über den Wiesenstreifen. Doch der Vater hielt sie zurück. Nein, über
eine Wiese dürfe man im Sommer nicht gehen. Darüber war ich
froh, denn wenn die Jungen von dem Wasser geschmeckt und es nicht
salzig gefunden hätten, dann hätte diese Feststellung wohl doch einige
Vermutungen bezüglich der vermeintlichen Ostsee aufkommen lassen.
So aber wurde weiter getrottet. Albert war jetzt sehr unzufrieden;
von Zeit zu Zeit fluchte er: „Lehmanns soll der Deiwel holen!"
Dann aber wurde eine Laltestelle der Motorpost erreicht, die
dort für einige zwischen den Dünen versteckte Anwesen besteht. Für
wartende Fahrgäste ist eine bequeme Bank da, und darauf nahmen,
erschöpft und des Sammelns neuer Kräfte bedürftig, die Sieben
jetzt Platz. Oder vielmehr nur sechs; Lenchen wurde von der Tante
auf den Schoß genommen. Das war nett, denn so blieb auch noch
ein Eckchen für mich übrig. And jetzt endlich fand Albert es doch
angezeigt, sich bei mir zu erkundigen. „Erlauben Sie mal: wieweit
ist es denn noch an den richtigen Strand?"
„Etwa 20 Minuten," sagte ich, und das war die Wahrheit, denn
wir waren hier an der breitesten Stelle der Nehrung, und um an
den Strand zu gelangen, hätte man mit viel Zeitverlust über
unwegsame Dünen klettern müssen.
„Donner — noch 20 Minuten! And 40 sind wir ja schon gelaufen!
Macht also 'ne ganze Stunde! — Gehen Sie jeden Tag an den
Strand?"
„Ja ja — jeden Tag!" sagte ich, und das war auch die Wahr-
heit. Allerdings liegt meine Wohnung nur eine Minute vom
Strande.
Darauf wandte sich Albert an die Seinen mit einer mir gegen-
über häßlichen Aeußerung: „Na, Kinder, wir werden nicht so ver-
rückt sein, hier jeden Tag an den Strand zu laufen. Ausgeschlossen!
Aber eine Gemeinheit ist es von Lehmanns, uns so anzuschmieren.
Denen werde ich gründlich die Wahrheit sagen. Oder nee — wir
werden lieber gar nischt sagen. Wir werden ihnen den Triumph
nicht gönnen, daß sie über uns grinsen. Sie dürfen überhaupt nicht
wissen, daß wir aus ihre hinterlistige Empfehlung 'reingefallen sind.
Paßt mal auf!"
An dem Pfahl mit dem Schild „Laltestelle" hing ein Fahrplan.
Albert sah nach, schaute auf die Ahr und jubelte: „Großartig! Kin-
der, wir haben Glück: gleich kommt der Autobus. Wir fahren wieder
zurück. Wir werden doch in dieser gottverlassenen Gegend nicht hocken
bleiben. Nee, wir fahren in die Stadt nach dem Bahnhof; da essen
wir — und fein werden wir essen! und dann fahren wir mit der
Bahn nach irgendeinem andern Badeort hier in der Nähe; es sind
ja noch ein paar da. And dann schicken wir gleich 'ne Ansichtskarte
an Lehmanns."
And da kam auch schon der Autobus, und das Siebengestirn —
aber nur Albert strahlte, die andern waren matt — kletterte hinein
und fuhr ab, und ich habe es nicht wiedergesehen. Aber eigentlich
hatte ich nun den Ort um sieben Gäste gebracht, die doch immerhin
etwas Geld dagelassen hätten. Man könnte mir das verübeln, und
deshalb möchte ich bitten, die Geschichte nicht weiter zu erzählen.
„Gibt es denn in Ihrem Garten auch Engerling«,
Frau Nachbarin?"
„Wieso? Ich Hab ja gar keine gepflanzt!"
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Albert war stolz. „Na also, was habe ich gesagt? Wir sind auf
dem richtigen Wege gewesen. Nu wollen wir uns mal die See
ansehen!"
Sie setzten sich hurtiger in Bewegung, überholten mich und liefen
beinahe, bis sie einen Punkt erreicht hatten, wo die Straße nur noch
etwa hundert Meter von dem See entfernt ist. Lier zieht sich ein
Wiesenstreifen entlang, auf dem gerade ein paar Kühe weideten.
Da standen sie nun und hielten Ausschau. Als ich ihnen nachgekommen
war, setzte ich mich im Grase nieder, tat, als müßte ich mir einen
Schuh zubinden, und hörte zu.
Der Großpapa war kritisch. Er erklärte: „Ich bin zwar noch nie
an der See gewesen, aber ich habe doch allerlei gelesen. Lier stiinmt
was nicht. Albert! Das ist doch kein weites Wasser. Sieh doch, da
kann man ja 'rüberkucken. Da drüben sind ja Läufer. And eine Wiese
so dicht an der See? Nee wirklich. Albert, da stimmt was nicht."
Das waren vernünftige Erwägungen, aber Albert lehnte sie mit
dem Achselzucken des Besserwissens ab. „Was soll hier nicht stim-
men? Ich bin auch noch nie an der See gewesen, aber ich kann mir
das hier ganz gut erklären. Das ist hier eben eine Bucht, 'ue ganz
kleine Bucht. Da ist alles schön geschützt, und darum kann hier
auch 'ne Wiese sein."
Die Tante wagte es, sich Großpapas Erwägungen anzuschließen.
„Merkwürdig, daß Kühe so unmittelbar an der See grasen!"
Albert blieb eigensinnig; er half sich mit einem faulen Witz:
„Na, das werden eben sogenannte Seekühe sein."
Aber die Jungen waren auch unzufrieden. „Lier is ja kein Sand,
Bater! Du hast doch gesagt, hier is lauter Sand, und da bauen wir
uns eine Burg, 'ne ganz große Burg."
Äierzu nickte Albert. „Stimmt; das wollen wir ja auch machen.
Aber hier an dieser kleinen Bucht is nu eben Gras. Der Sand wird
erst kommen, wenn wir noch 'n Stück weiter sind; da müssen wir
erst an der Bucht vorbei sein."
Der Großpapa schimpfte: „Blödsinnige Lauferei! Viel weiter gehe
ich nicht mehr. Albert!" And die Tante sagte etwas von unnötigen
Strapazen.
Damit war Albert einverstanden. „Mir gefüllt der weite Weg
auch nicht. Aber daran sind Lehmanns schuld; die haben uns ja so
dringend empfohlen, hierher zu fahren."
„Die Lehmann hat doch gesagt, sie haben bloß zwei Minuten
bis an den Strand gehabt," erinnerte Ernestine.
„So'n Schwindel!" knurrte Albert. „Aber es ist 'ne alte Sache:
auf solche Empfehlungen darf man nichts geben. Ja, Kinder, nu
sind wir mal hier-also weiter!"
Der Marsch wurde fortgesetzt. Beinahe wäre es vielleicht nicht
mehr dazu gekommen. Das kleine Mädchen hatte Durst; es wollte
trinken — von dem vielen Wasser wollte es trinken. „Nee, Lenchen,
das geht nicht!" belehrte der Vater. „Von dem Wasser kriegst du
noch mehr Durst; das ist ja Seewasser, das ist salzig." — „Au ja,
wollen mal probieren!" freuten sich die Jungen und wollten schon
über den Wiesenstreifen. Doch der Vater hielt sie zurück. Nein, über
eine Wiese dürfe man im Sommer nicht gehen. Darüber war ich
froh, denn wenn die Jungen von dem Wasser geschmeckt und es nicht
salzig gefunden hätten, dann hätte diese Feststellung wohl doch einige
Vermutungen bezüglich der vermeintlichen Ostsee aufkommen lassen.
So aber wurde weiter getrottet. Albert war jetzt sehr unzufrieden;
von Zeit zu Zeit fluchte er: „Lehmanns soll der Deiwel holen!"
Dann aber wurde eine Laltestelle der Motorpost erreicht, die
dort für einige zwischen den Dünen versteckte Anwesen besteht. Für
wartende Fahrgäste ist eine bequeme Bank da, und darauf nahmen,
erschöpft und des Sammelns neuer Kräfte bedürftig, die Sieben
jetzt Platz. Oder vielmehr nur sechs; Lenchen wurde von der Tante
auf den Schoß genommen. Das war nett, denn so blieb auch noch
ein Eckchen für mich übrig. And jetzt endlich fand Albert es doch
angezeigt, sich bei mir zu erkundigen. „Erlauben Sie mal: wieweit
ist es denn noch an den richtigen Strand?"
„Etwa 20 Minuten," sagte ich, und das war die Wahrheit, denn
wir waren hier an der breitesten Stelle der Nehrung, und um an
den Strand zu gelangen, hätte man mit viel Zeitverlust über
unwegsame Dünen klettern müssen.
„Donner — noch 20 Minuten! And 40 sind wir ja schon gelaufen!
Macht also 'ne ganze Stunde! — Gehen Sie jeden Tag an den
Strand?"
„Ja ja — jeden Tag!" sagte ich, und das war auch die Wahr-
heit. Allerdings liegt meine Wohnung nur eine Minute vom
Strande.
Darauf wandte sich Albert an die Seinen mit einer mir gegen-
über häßlichen Aeußerung: „Na, Kinder, wir werden nicht so ver-
rückt sein, hier jeden Tag an den Strand zu laufen. Ausgeschlossen!
Aber eine Gemeinheit ist es von Lehmanns, uns so anzuschmieren.
Denen werde ich gründlich die Wahrheit sagen. Oder nee — wir
werden lieber gar nischt sagen. Wir werden ihnen den Triumph
nicht gönnen, daß sie über uns grinsen. Sie dürfen überhaupt nicht
wissen, daß wir aus ihre hinterlistige Empfehlung 'reingefallen sind.
Paßt mal auf!"
An dem Pfahl mit dem Schild „Laltestelle" hing ein Fahrplan.
Albert sah nach, schaute auf die Ahr und jubelte: „Großartig! Kin-
der, wir haben Glück: gleich kommt der Autobus. Wir fahren wieder
zurück. Wir werden doch in dieser gottverlassenen Gegend nicht hocken
bleiben. Nee, wir fahren in die Stadt nach dem Bahnhof; da essen
wir — und fein werden wir essen! und dann fahren wir mit der
Bahn nach irgendeinem andern Badeort hier in der Nähe; es sind
ja noch ein paar da. And dann schicken wir gleich 'ne Ansichtskarte
an Lehmanns."
And da kam auch schon der Autobus, und das Siebengestirn —
aber nur Albert strahlte, die andern waren matt — kletterte hinein
und fuhr ab, und ich habe es nicht wiedergesehen. Aber eigentlich
hatte ich nun den Ort um sieben Gäste gebracht, die doch immerhin
etwas Geld dagelassen hätten. Man könnte mir das verübeln, und
deshalb möchte ich bitten, die Geschichte nicht weiter zu erzählen.
„Gibt es denn in Ihrem Garten auch Engerling«,
Frau Nachbarin?"
„Wieso? Ich Hab ja gar keine gepflanzt!"
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Werk/Gegenstand/Objekt
Pool: UB Fliegende Blätter
Titel
Titel/Objekt
"Gibt es denn in Ihrem Garten auch Engerlinge..."
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Fliegende Blätter
Sachbegriff/Objekttyp
Inschrift/Wasserzeichen
Aufbewahrung/Standort
Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Inv. Nr./Signatur
G 5442-2 Folio RES
Objektbeschreibung
Maß-/Formatangaben
Auflage/Druckzustand
Werktitel/Werkverzeichnis
Herstellung/Entstehung
Künstler/Urheber/Hersteller (GND)
Entstehungsdatum
um 1941
Entstehungsdatum (normiert)
1936 - 1946
Entstehungsort (GND)
Auftrag
Publikation
Fund/Ausgrabung
Provenienz
Restaurierung
Sammlung Eingang
Ausstellung
Bearbeitung/Umgestaltung
Thema/Bildinhalt
Thema/Bildinhalt (GND)
Literaturangabe
Rechte am Objekt
Aufnahmen/Reproduktionen
Künstler/Urheber (GND)
Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
In Copyright (InC) / Urheberrechtsschutz
Creditline
Fliegende Blätter, 195.1941, Nr. 5009, S. 69
Beziehungen
Erschließung
Lizenz
CC0 1.0 Public Domain Dedication
Rechteinhaber
Universitätsbibliothek Heidelberg