Zeichnung von §J(. Bauet
Norberts Abende
Vor Geschäft und Vergnügen kam er nie zu sich. And wenn spät
nachts sein Lebensmotor, der stets auf höchster Tourenzahl, endlich
zum Stillstand kam, schaltete er mit ihm auch sich selbst aus. In
instinktiver Angst, sein Bewußtsein könnte, wach erhalten, auf die
eigene innere Leere stoßen. Aus Furcht, sich zu langweilen, mied er
das Alleinsein mit sich selbst. So wurde er nie in seinem Leim
heimisch und blieb innerhalb seiner vier Wände stets ein Fremder.
War der Schlaf abgeleistet, waren mit dem Frühstück neue Energien
geladen, dann setzte sich der Motor Norbert sogleich wieder in
Gang, zur Erzeugung der täglichen Nutzeffekte, und stand erst nach
vollbrachter Tagesleistung, Produktions- wie Konsumsleistung, vor
seinem Bette wieder still.
Nun aber kam eine Zeit, da die täg-
lichen Konsumsleistungen eine wesent-
liche Einschränkung erfuhren, weil die
Abende, die herkömmlicherweise dem
Konsum geweiht waren, immer kürzer
und die dazu gehörigen Konsumartikel
immer weniger wurden. Die Schau- und
Gaststätten schlossen immer früher, die
geistigeren Flüffigkeiten versiegten. Norbert
war gezwungen, in der eigenen Behausung
seine Zuflucht zu suchen. Anfangs lud er
sich einige Freunde ein und tröstete sich
und sie mit den eigenen Kellerbeständen
über die Abende hinweg, die keine mehr
waren. Als sich aber die Kellerbestände er-
schöpften, blieben die Freunde aus, und
Norbert saß mit sich allein. Er konnte sich
nicht mehr wie früher das tägliche Ver-
gnügen, die tägliche Zerstreuung, den täg-
lichen Betrieb kaufen, mußte selbst für seine
Anterhaltung, seinen Zeitvertreib sorgen.
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Einst hatte er nie Zeit gehabt, jetzt standen ihm jeden Abend etliche
Stunden bevor, die verlebt, vertrieben, totgeschlagen werden mußten.
Er schritt durch seine Zimmer auf und nieder und beratschlagte mit
sich selbst, wie er das anstellen sollte.
Sein ratloser Blick blieb am Bücherschrank haften. Ein Möbel, in
das er stets nur Bücher gestellt, nie herausgeholt hatte. Wenn er
es doch einmal versuchteI Er griff aufs Geratewohl nach dem nächste»
Band: Gottfried Keller. Keller war kein unsympathischer Name, er
erweckte angenehme Erinnerungen: Salvatorkeller, Kellerfeste usw.
And der Titel „Der grüne Leinrich" hatte^ etwas Lustiges, das zum
Lesen verlockte. Er blätterte erst zerstreut, machte Stichproben durch
die Kapitel, dann gab er sich einen energischen Ruck, schlug die erste
Seite auf und zwang sich zur Aufmerk-
samkeit. Es sollte gewissermaßen ein
wissenschaftlicher Versuch sein, ob der
„Grüne Leinrich" imstande wäre, ihn, den
anspruchsvollen Genießer, zu unterhalten.
Er las, las, zuerst noch mit innerem
Widerstand, mit einer Skepsis, die nur
zu gern die Achseln gezuckt hätte. Anmerk-
lich aber ließ er sich von der Beredtheit
und Zuständigkeit der Worte gewinnen,
geriet von einer Zeile zur andern, von
einer Seite zur andern tiefer und tiefer in
den Bann des Erzählers, in die berückende
Macht des Raunens, die Dichtertum heißt.
Er vergaß die Frist, die er sich gesetzt hatte.
And als er endlich gewaltsam sich losriß,
entdeckte er zu seiner Aeberraschung, daß
er drei Stunden, volle drei Stunden in
ein Zaubernetz verstrickt gewesen war. Eine
seltsame Lexerkunst ward da mit ihm ge-
trieben, er war in eine noch gestern un-
geahnte, ungekannte Welt entrückt worden,
,,Z sag's jo immer, Frau Löhle, was mer bloß
koschtbare Zeit vertut mit dem dumme Rum-
schtehe en dene Gschäftel"
Norberts Abende
Vor Geschäft und Vergnügen kam er nie zu sich. And wenn spät
nachts sein Lebensmotor, der stets auf höchster Tourenzahl, endlich
zum Stillstand kam, schaltete er mit ihm auch sich selbst aus. In
instinktiver Angst, sein Bewußtsein könnte, wach erhalten, auf die
eigene innere Leere stoßen. Aus Furcht, sich zu langweilen, mied er
das Alleinsein mit sich selbst. So wurde er nie in seinem Leim
heimisch und blieb innerhalb seiner vier Wände stets ein Fremder.
War der Schlaf abgeleistet, waren mit dem Frühstück neue Energien
geladen, dann setzte sich der Motor Norbert sogleich wieder in
Gang, zur Erzeugung der täglichen Nutzeffekte, und stand erst nach
vollbrachter Tagesleistung, Produktions- wie Konsumsleistung, vor
seinem Bette wieder still.
Nun aber kam eine Zeit, da die täg-
lichen Konsumsleistungen eine wesent-
liche Einschränkung erfuhren, weil die
Abende, die herkömmlicherweise dem
Konsum geweiht waren, immer kürzer
und die dazu gehörigen Konsumartikel
immer weniger wurden. Die Schau- und
Gaststätten schlossen immer früher, die
geistigeren Flüffigkeiten versiegten. Norbert
war gezwungen, in der eigenen Behausung
seine Zuflucht zu suchen. Anfangs lud er
sich einige Freunde ein und tröstete sich
und sie mit den eigenen Kellerbeständen
über die Abende hinweg, die keine mehr
waren. Als sich aber die Kellerbestände er-
schöpften, blieben die Freunde aus, und
Norbert saß mit sich allein. Er konnte sich
nicht mehr wie früher das tägliche Ver-
gnügen, die tägliche Zerstreuung, den täg-
lichen Betrieb kaufen, mußte selbst für seine
Anterhaltung, seinen Zeitvertreib sorgen.
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Einst hatte er nie Zeit gehabt, jetzt standen ihm jeden Abend etliche
Stunden bevor, die verlebt, vertrieben, totgeschlagen werden mußten.
Er schritt durch seine Zimmer auf und nieder und beratschlagte mit
sich selbst, wie er das anstellen sollte.
Sein ratloser Blick blieb am Bücherschrank haften. Ein Möbel, in
das er stets nur Bücher gestellt, nie herausgeholt hatte. Wenn er
es doch einmal versuchteI Er griff aufs Geratewohl nach dem nächste»
Band: Gottfried Keller. Keller war kein unsympathischer Name, er
erweckte angenehme Erinnerungen: Salvatorkeller, Kellerfeste usw.
And der Titel „Der grüne Leinrich" hatte^ etwas Lustiges, das zum
Lesen verlockte. Er blätterte erst zerstreut, machte Stichproben durch
die Kapitel, dann gab er sich einen energischen Ruck, schlug die erste
Seite auf und zwang sich zur Aufmerk-
samkeit. Es sollte gewissermaßen ein
wissenschaftlicher Versuch sein, ob der
„Grüne Leinrich" imstande wäre, ihn, den
anspruchsvollen Genießer, zu unterhalten.
Er las, las, zuerst noch mit innerem
Widerstand, mit einer Skepsis, die nur
zu gern die Achseln gezuckt hätte. Anmerk-
lich aber ließ er sich von der Beredtheit
und Zuständigkeit der Worte gewinnen,
geriet von einer Zeile zur andern, von
einer Seite zur andern tiefer und tiefer in
den Bann des Erzählers, in die berückende
Macht des Raunens, die Dichtertum heißt.
Er vergaß die Frist, die er sich gesetzt hatte.
And als er endlich gewaltsam sich losriß,
entdeckte er zu seiner Aeberraschung, daß
er drei Stunden, volle drei Stunden in
ein Zaubernetz verstrickt gewesen war. Eine
seltsame Lexerkunst ward da mit ihm ge-
trieben, er war in eine noch gestern un-
geahnte, ungekannte Welt entrückt worden,
,,Z sag's jo immer, Frau Löhle, was mer bloß
koschtbare Zeit vertut mit dem dumme Rum-
schtehe en dene Gschäftel"
Werk/Gegenstand/Objekt
Pool: UB Fliegende Blätter
Titel
Titel/Objekt
"Sie sticht wohl der Hafer?" "I sag's jo immer, Frau Löhle"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Fliegende Blätter
Sachbegriff/Objekttyp
Inschrift/Wasserzeichen
Aufbewahrung/Standort
Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Inv. Nr./Signatur
G 5442-2 Folio RES
Objektbeschreibung
Maß-/Formatangaben
Auflage/Druckzustand
Werktitel/Werkverzeichnis
Herstellung/Entstehung
Künstler/Urheber/Hersteller (GND)
Entstehungsdatum
um 1944
Entstehungsdatum (normiert)
1939 - 1949
Entstehungsort (GND)
Auftrag
Publikation
Fund/Ausgrabung
Provenienz
Restaurierung
Sammlung Eingang
Ausstellung
Bearbeitung/Umgestaltung
Thema/Bildinhalt
Thema/Bildinhalt (GND)
Literaturangabe
Rechte am Objekt
Aufnahmen/Reproduktionen
Künstler/Urheber (GND)
Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
In Copyright (InC) / Urheberrechtsschutz
Creditline
Fliegende Blätter, 200.1944, Nr. 5166, S. 5166_054
Beziehungen
Erschließung
Lizenz
CC0 1.0 Public Domain Dedication
Rechteinhaber
Universitätsbibliothek Heidelberg