Fliegende Blätter (200.1944 (Nr. 5136-5174) = 100. Jahrgang)

Selbsterziehung

bei maßvollem Aeußerungsdrang ge-
nügen! Wie die Welt im Allgemeinen,
so behandle auch deine lieben Mit-
menschen! Bedenke, sie können nichts
dafür, daß sie deine Nächsten sind, wahr-
scheinlich wären sie lieber deine Fernsten!
Du mußt dir nicht einbilden, daß du
um ein Laar genießbarer bist als sie.
Abgesehen davon, daß sich der Grad
menschlicher Genießbarkeit vielleicht gar
nicht nach der Anzahl der Laare
richtet!

Ich nahm mich also in Zaum, hielt
mich an der Kandare, unterdrückte alle
herausfordernden Morgengrüße an die
Welt und kehrte den Mitmenschen
meine freundlichste Seite zu, spendete
ihnen meine freundlichsten Worte und
bestrahlte sie mit meinem gewinnendsten
Lächeln. Das waren sozusagen nur
Vorübungen in Menschenfreundlichkeit,
in Leutseligkeitsmimik. Aber das Mie-
nenspiel geriet leider nur zu schnell zum
Mienenernst, wenn ich in der Praxis
mit den lieben Mitmenschen zusammen-
stieß. Anwillkürlich entwich dem Gehege
der gepflegten Zähne manch ungehegte
Aeußerung. Ich mußte zu strengerer
Selbsterziehung schreiten. Ich unter-
drückte alle wilden Kampfgelüste,
alle Box-, Kratz-, Tritt- und Lieb-
seligkeit. Korbinian, bedenke, daß du
ein Mensch bist! Nicht ein reißendes
Tier! Wahre die Würde des homo
sapiens, wie du in der Naturge-
schichte heißt, auch wenn es dir schwer
fällt! Wenn jeder seinen Launen freien
Lauf ließe, welches Chaos entstünde da
nicht! Ich hielt mich also im Zaum,
wenn ich noch so ungehalten war, ich
gängelte mich, wenn ich nach allen Seiten
auszuschlagen drohte, ich wandte tausend
Tricks an, um mich selbst zu betrügen
und belügen. Ich zwang mich, blind
und taub zu sein, ich ignorierte mich
und meine elementarsten Instinkte,

„Daß Sie das noch nicht ge-
hört haben, die Spatzen pfeifen's
ja von den Dächern."

„Ja, wissen Sie, ich wohne
eben parterre!"

„Aus diesem Buch geht hervor, daß die Natur
nur an die Erhaltung der Arten denkt."
„Bei dir auch an die Erhaltung der Anarten."

meine berechtigtsten Wallungen. Ich stammelte
fortgesetzt Verzeihung nach allen Seiten, wenn
ich im Rechte war, entschuldigte mich, wenn
andere sich zu entschuldigen hatten, bat, wenn
nichts zu bitten, dankte, wenn nichts zu danken
war. Stieg in mir irgend ein Ingrimm auf,
blähte sich tückisch die Galle, dann suchte ich
die gefährlichen Regungen auf morgen zu ver-
tagen und machte inzwischen vorbeugende und
entkräftigende Aebungen der Beschwichtigungs-
gymnastik. Juckte und kitzelte mich ein Aerger,
so schaltete ich sogleich Atemrhythmik ein, kurz,
ich suchte auf jede nur denkbare Weise meine
angeborene Gutmütigkeit, Friedfertigkeit und
Menschenliebe mir neuanzuerziehen. Kein Lorn-
vchse, kein Mastrind, keine kämpferischen Aus-

schweifungen der Mitmenschen brachten mich
aus dem mühsam erbalancierken Gleichgewicht.
Ich hielt mich für ein wahres Musterbeispiel
der Selbstzucht.

Seit acht Tagen leide ich nun an Schwäche-
anfällen, an Erschöpfungszuständen, an leib-
lichem und seelischem Kräfteschwund. Ich schwanke
und wanke, ich jappe und kläffe wie ein asth-
matischer Mops.

Leute ging ich zum Arzt. Er schüttelte miß-
billigend sein beruflich assistierendes Laupt.
„Sie richten sich zugrunde, wenn Sie sich ständig
unterdrücken. Täglich die Galle ausgespien, den
faden Schleim ausgeschleimt! Erhalten Sie einen
Lieb, so hauen Sie zurück! Bekommen Sie
einen Tritt, so treten Sie wieder! Sie werden

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