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Die Form: Zeitschrift für gestaltende Arbeit — 7.1932

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Riezler, Walter: Die Brücke
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https://doi.org/10.11588/diglit.13707#0097
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Die Brücke

WALTE R R I EZ LE R

Zeit seines Lebens und seiner Geschichte ist
Wien in höherem Grade als irgendeine andere
Stadt die Brücke gewesen, die deutsches Wesen,
deutsche Sprache und deutsche Kultur mit der
Welt draußen verband. Nicht nur Slawentum
und Orient in ihrer ganzen Fremdheit und Viel-
gestaltigkeit trafen sich auf dieser Brücke mit dem
westlichen Europa — auch dieses Europa selbst
war hier zu jeder Zeit bunter und komplizierter,
weniger einseitig „deutsch" als in irgendeiner
anderen deutschsprechenden Stadt. Der Ka-
tholizismus zeigte hier seine romanische Form
stärker als etwa in Bayern oder am Rhein, und
auch sonst drang romanisches Wesen auf hun-
dert Wegen in die Stadt ein: im spanischen
Zeremoniell des sehr mächtigen, alles besonnen-
den — und beschattenden — kaiserlichen Hofes
ebenso wie in der erstaunlichen Vielsprachig-
keit der Bevölkerung, von der ein sehr großer
Teil schon beruflich gezwungen war, italienisch
zu sprechen. Erschien infolgedessen die „Lebens-
form" des Wieners manchem Besucher aus Nord-
deutschland nicht mehr eigentlich „deutsch", so
war dies sicher ein Irrtum, entstanden aus einer
allzu engen Auffassung vom „deutschen Wesen",
die selber undeutscher ist als das mißverstandene
Wienertum. Denn schließlich ist Wien seit langer
Zeit eines der großen Zentren deutscher Kultur
gewesen — sicherlich kein in die Fremde vor-
geschobener Posten, sondern so ursprünglich
„deutsch" wie nur möglich: diese ganze wunder-
bar reiche Kultur ist ja getragen von einem echt
deutschen Stamm, dessen Eigenart dem ganzen
gesegneten Lande um Wien herum seinen
Stempel aufgedrückt hat — der sich aber aller-
dings unter dem Einfluß der besonderen kultu-
rellen und geschichtlichen Bedingungen, des
Klimas und all der anderen geheimnisvollen,
noch nicht erforschten Mächte des Bodens sehr
anders entwickelt hat als in dem benachbarten
Bayern, so anders, daß auch der Bayer den
Österreicher, vor allem den Wiener, eher als
stammesfremd denn als verwandt empfindet. So
stark ist diese Macht des Bodens, daß sie nicht
nur den Charakter des dort seit weit mehr als
tausend Jahren ansässigen Volkes umzuprägen
vermochte, sondern auch all das Fremde, das
sich dort eingenistet hat, zu einer Einheit, und
zwar zu einer im weitesten und schönsten Sinne
„deutschen" Einheit umgeschmolzen hat.

Gerade jetzt erleben wir einen noch erstaun-
licheren Beweis für diese Macht des Bodens.
Wien hat durch den Krieg mehr gelitten als
irgendeine andere Stadt. Es hat nicht nur den
mächtigen Hof verloren, sondern dazu auch noch
den größten Teil des Landes, dessen Hauptstadt
es gewesen ist. Nach den Gesetzen rationaler
Logik müßte diese Stadt bereits untergegangen
sein oder doch allmählich verfallen. In Wirklich-
keit aber lebt sie nicht nur — wenn auch unter
Entbehrungen und Schwierigkeiten —, sondern
hat sogar in dieser Zeit nach dem Kriege eine
Leistung vollbracht, die von ungebrochener
Lebenskraft zeugt: sie hat mit einer Konsequenz
und Energie sondergleichen ein kommunal-
sozialistisches Experiment größten Stiles durch-
geführt. Die Unerbittlichkeit und Kompromiß-
losigkeit, mit der das geschah, scheint allem,
was man sich bisher unter „Wienertum" vor-
stellte, zu widersprechen, so daß man meinen
sollte, es müßte der eigentliche Charakter dieser
Stadt dadurch ebenso zerstört oder doch ver-
ändert worden sein, wie man es im faschistischen
Italien zu beobachten glaubt. In Wirklichkeit
aber erlebt man — als Fremder jedenfalls — bei
jedem Aufenthalt in Wien mit neuem Staunen,
daß sich aller Schwere der Zeit zum Trotz nicht
nur der alte Zauber, sondern, was viel mehr
sagen will, auch die kulturelle Wesenheit der
Stadt fast unverändert erhalten hat. (Während
jeder aufmerksame Italienreisende feststellen
kann, wie stark sich der italienische Volks-
charakter unter der Herrschaft des Faschismus
geändert hat — womit nicht gesagt ist, daß diese
Änderung sehr tief geht). Und zwar sieht es so
aus, als ob die junge Generation, die das „alte
Wien" gar nicht mehr mit Bewußtsein erlebt hat,
nicht weniger „wienerisch" wäre als die ältere.

Es ist nicht unsere Sache, zu untersuchen, aus
welchen realen Quellen diese unzerstörbare
Lebenskraft gespeist wird. Wohl aber ist die Tat-
sache selbst von der größten Bedeutung: denn
hier zeigt sich einmal sehr deutlich, daß es neben
allem Wechsel auch ein Bleibendes gibt, daß
keine Kluft, die von der Geschichte aufgerissen
wird, so breit ist, daß der Mensch nicht das
instinktive Bedürfnis hätte, eine Brücke darüber
zu schlagen. Wien alsdie Brücke nicht
nurzwischen Orient und Okzident,
sondern auch zwischen „alter" und

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