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Gruner, Ludwig
Die Basreliefs an der Vorderseite des Doms zu Orvieto — Leipzig, 1858

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https://doi.org/10.11588/diglit.8273#0005
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DIE BASRELIEFS AN DER VORDERSEITE DES DOMS ZU ORVIETO.

D er Dom zu Orvieto, welcher zum Andenken des Wunders von Bolsena erbaut worden ist, bietet
die merkwürdige und grossartige Erscheinung einer mehrere Jahrhunderte hindurch sich gleich mächtig
erweisenden Kunstbegeisterimg dar. Und diese ist keineswegs ausschliesslich auf äussere Pracht und welt-
lichen Pomp gerichtet, wie dies bei der St.-Peterskirche in Rom nur allzusehr der Fall ist , sondern sie
gibt sich in der wahrhaft poetischen Veranschaulichung echt christlicher Ideen kund, deren organi-
schen Zusammenhang nachzuweisen oder auch nur zu zergliedern bis jetzt noch keiner der vielen Kunst-
schreiber versucht hat.

Ein solches Unternehmen würde allerdings auch sehr erhebliche Schwierigkeiten zu überwinden
haben und viel, sehr viel Zeit beanspruchen. Denn es handelt sich dabei um nichts weniger als um den
Wiederaufbau eines umfangreichen, weit verzweigten Ideengebäudes, welches aus lauter tiefsinnigen, in
vielfachen Wechselbeziehungen stehenden Vorstellungen aufgezimmert und in einem so grossartigen
Maassstab durchgeführt ist, dass man an mehr als einer Stelle den geistigen Zusammenhang zu ver-
lieren Gefahr läuft.

Die Vorderansicht dieses in seiner Art einzigen Gotteshauses (Tof. 1.), welches eine der bedeu-
tungsvollsten Schöpfungen des \ 3. Jahrhunderts ist und als solche der Göttlichen Komödie des Dante
zur Seite gestellt werden darf, mag als die Ouvertüre betrachtet werden zu dem wunderherrlichen Stück,
welches die beiden folgenden Jahrhunderte hindurch in gleich erhabener Tonart fortspielt.

Indem wir uns anschicken, nur einen verhältnissmässig sehr kleinen Theil des figurenreichen
Schmucks, welchen die Vorderansicht dieser Kirche darbietet, einer eingehenden Betrachtung zu unter-
werfen, wollen wir nur im Allgemeinen daran erinnern, dass das architektonische Knochengerüste dieser
prachtvollen Kunstanlage das Werk eines sienesischen Meisters, Lorenzo Maitani, ist. Siena war
damals der Muttersitz einer in edelster Weise entfalteten Kunstthätigkeit, die sich auch beim Entwurf
zu dem Dom von Orvieto bewährt hat. Das unverrückbare Programm, welches Jedem, der sich an
der Ausführung des Ganzen betheiligen mochte, das Feld seiner Thätigkeit sauber abgegrenzt anwies,
scheint den vielen Hundert Künstlern, die bei der Ausschmückung des Baues beschäftigt gewesen sind,
die festen Bahnen vorgezeichnet zu haben, welche man selbst in den barocken Zeiten, denen die Mosaiken
zum grössern Theil angehören, nicht ganz zu verlassen gewagt hat.

Die vier gothischen Thürmchen, welche die Vorderwand überragen, stehen auf ebenso vielen
Pfeilern, welche zwischen und neben den drei Eingangsthoren aus der Mauer hervortreten. Ihre breiten

Flächen hat der Baumeister den Bildhauern angewiesen, die auf denselben vier grossartige Relief-
compositionen entfaltet haben, deren unendlich reicher Ideengehalt uns zunächst beschäftigen soll.

Sie sind, wie allbekannt, Werke der Schüler des grossen Nicolo Pisano, eines Meisters, der den
eigentbümlichen Beruf des Bildners besser verstanden hat als alle andern, die nach ihm gekommen
sind. Indem er sich, ähnlich wie Dante den Virgil, die Vortragsweise römischer Sarkophage zum Muster
genommen, hat er sich die Gesetze des plastischen Styls unbewusst zu eigen gemacht und hat seiner
Schule das kostbare Vermächtniss eines kunst- und stoffgemässen reinen Ausdrucks hinterlassen.

Doch nicht um die Nachweisung der kunstgeschichtlichen Bedeutung dieser Bildnereien ist es
uns hier zu thun. Uns liegt zunächst nur ob, das Verständniss der zum Theil räthselhaften Dar-
stellungen anzubahnen und auf die Gedankengliederung hinzuweisen, die fast überall zum Nachdenken
herausfordert, auch da wo Alles so einfach angeordnet ist, dass der Zusammenhang sich von selbst zu
ergeben scheint.

Wenn wir einen Blick auf das Ganze werfen, welches diese vier Pfeiler mit ihren Relief-
schilderungen bilden, so finden wir, dass sie die vier Weltalter, in die, christlicher Anschauungsweise
zufolge, die Geschichte zerfällt, vorzufuhren die Bestimmung haben. Auf dem ersten (Taf. 5 bis 18.) ist die
Urgeschichte des Menschengeschlechts in einer so einfach erhabenen Weise zur Darstellung gebracht,
dass selbst Michel Angelo nur an dieselbe hat anknüpfen können, ohne dass er sie, trotz der ihm zu
Gebote stehenden so unendlich viel mächtigeren Kunstmittel, zu überbieten vermocht hat. Jeder Zug
athmet den Geist jener göttlichen Bücher, in denen die ältesten Urkunden des Menschengeschlechts und
seiner Geschichte niedergelegt sind.

Der zweite Pfeiler (Taf. 19 bis 42.) ist dem prophetischen Zeitalter gewidmet. Die Sehnsucht nach
dem verheissenen Heil offenbart sich hier in einer Fülle von Anschauungen und Gesichten. Dass die
göttliche Begeisterung, von welcher alle Gestalten erfüllt sind, einen tief inneren Grund hat und gleich-
zeitig auf einen Gegenstand gerichtet ist, durch den sie zur ewigen Wahrheit wird, geht aus dem
logisch gegliederten Zusammenhang hervor, welcher, obwol rein poetisch, doch überall als historisch
bündig sich herausstellt.

Zwar ist es nur ein Traumbild, unter dessen Gestalt die göttliche Weltökonomie uns hier
entgegentritt, aber eines jener klaren Gesichte, in denen sich die Zukunft nicht blos ganz so wie sie
ist, sondern sogar im Lichte höherer Wahrheit spiegelt. Der schlafende Abraham bildet die Wurzel

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