Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 28.1930

DOI Heft:
Heft 5
DOI Artikel:
Die Van Gogh-Affäre: aus einer im Jahre 3200 erschienenen Kunstgeschichte
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.7609#0243
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
DIE VAN GOGH-AFFÄRE

AUS EINER IM JAHRE 3100 ERSCHIENENEN KUNSTGESCHICHTE

.... Ob ein Maler namens van Gogh in Wirklichkeit ge-
lebt hat, kann nach dem heutigen Stande der Wissenschaft
nicht für ausgemacht gelten und wird vermutlich niemals
mit Sicherheit festgestellt werden. Schon Meier-Graefe,
der zu seiner Zeit als Autorität galt, scheint ihn mit einem
Künstler namens Vincent verwechselt zu haben, von dem
wir noch einige signierte Bilder besitzen. Während aber
für Vincent sich keine Nachrichten erhalten haben, werden
über besagten van Gogh einige sehr merkwürdige Geschichten
erzählt, die stark legendenhaften Charakter tragen und die
Wahrscheinlichkeit, daß sie sich auf eine historische Per-
sönlichkeit beziehen, außerordentlich gering erscheinen lassen.
So wird unter anderem berichtet, van Gogh habe als Wander-
prediger unter den Bergarbeitern, die damals gezwungen
waren, im Innern der Erde zu arbeiten, eine Sekte begrün-
det, deren Anhänger sich verpflichten mußten, sich mit einem
Messer, das sonst zum Bartscheren diente, ein Ohr abzu-
schneiden. Es ist ein Porträt erhalten, das den Maler mit
verbundenem Gesicht, angeblich nach Vollzug dieser rituellen
Operation, darstellen soll. Eine Überlieferung, nach der
van Gogh im Wahnsinn geendet habe, wird allgemein als
apokryph angesehen, da sich diese Legende mit besonderer
Vorliebe in früherer Zeit an das Auftreten außergewöhn-
licher Persönlichkeiten heftete.

Über die Frage der Eigenhändigkeit der dem Maler zu-
geschriebenen Bilder sind schon wenige Jahrzehnte nach
seinem Tode sehr heftige Streitigkeiten entbrannt. Die Form
der Nachrichten läßt darauf schließen, daß auch diese Vor-
gänge, wenn ihnen wirkliche Ereignisse zugrunde liegen
sollten, jedenfalls sehr bald ins symbolisch Allgemeingültige
umgedeutet wurden. Die Personen, die als Spieler und
Gegenspieler in diesem Streite auftreten, tragen nicht
Eigennamen, sondern werden nach ihrer Funktion benannt,
wie dies in den früheren Epochen der Erdgeschichte über-
haupt üblich gewesen ist. Die erste dieser offenbar fingierten
Persönlichkeiten ist der sogenannte Kenner, der den Namen
de la Faille trägt. Faille bedeutet so viel wie Fehler, das
Adjektiv Faillible meint jemanden, der sich täuscht. Faillite
ist gleichbedeutend mit Pleite. Der Sinn ist also klar: der
Kenner ist derjenige, der sich täuscht. Es ist hierzu zu
bemerken, daß man in jener Zeit, als die Herstellungs-
verfahren für Kunstwerke noch in den primitiven hand-
werklichen Formen verharrten, durch genauen Vergleich der
Bilder feststellen zu können glaubte, von welchem Maler
jedes von ihnen herrührte. Es wurde sehr großes Gewicht
darauf gelegt, den Namen des Verfertigers eines Kunst-
werkes kennen zu lernen, was offenbar im Zusammenhang
steht mit dem damals noch weitverbreiteten Glauben an
einen persönlichen Gott, der die Welt in sechs Tagen her-
gestellt haben sollte. Nun waren etwa vierzig Jahre nach
dem Tode des angeblichen van Gogh alias Vincent mehr als
sechshundert Bilder bekannt, die als Werke seiner Hand be-
zeichnet wurden. Anderseits wurde behauptet, der Maler
habe im ganzen nur etwa vier Jahre an der Mehrzahl dieser
Bilder gearbeitet. Hier liegt ein offenkundiger Widerspruch

vor, weil nach der durchschnittlichen Herstellungszeit hand-
gemalter Ölbilder, die auf zwei Wochen berechnet wird,
in vier Jahren nicht mehr als etwa hundert Bilder entstan-
den sein konnten. Der obengenannte Faille übernahm nun
die Aufgabe, zuerst die sämtlichen Bilder van Goghs in
einem Katalog zu beschreiben und hierauf im Abstände von
immer genau einem Jahre jeweils hundert Bilder in einem
Nachtrage zu seinem Werke als Fälschungen zu bezeichnen,
bis die Wahrscheinlichkeitszahl der von van Gogh selbst
hergestellten Bilder erreicht war.

Diejenige Person, die für die Herstellung der übrigen
Bilder verantwortlich gemacht wurde, heißt in der Über-
lieferung Wacker. Der Name bedeutet in der germanischen
Ursprache tüchtig, tapfer mit dem Nebensinn ethischer
Qualität. Der Sinn dieses Namens ist nicht ganz leicht
zu verstehen. Es soll wohl einerseits auf die Tüchtigkeit
der Arbeit hingewiesen werden, anderseits hat der „Wackere"
seinen Mitmenschen einen guten Dienst erwiesen. Da der
angebliche van Gogh zu früh gestorben war, um der Nach-
frage nach seinen Bildern zu genügen, opferte er „wacker"
seine eigene Persönlichkeit, um sich mit der Herstellung
von Bildern zu befassen, die unter dem Namen eines anderen
gingen. Nachdem er anfangs verfolgt und bedroht wurde,
scheint man seine Verdienste eingesehen zu haben. Wenig-
stens ist nichts überliefert, wonach man annehmen müßte,
daß Wacker etwa wegen Betruges bestraft worden wäre.
Auch hier handelt es sich offenbar um symbolische Andeu-
tungen, die auf einen allgemeinen Meinungsumschwung
jener Zeit hinsichtlich der sogenannten Echtheitsfrage hin-
deuten. Daß nicht eine historische Persönlichkeit, sondern
eine Figur der Legende gemeint ist, geht übrigens auch
schon daraus mit Sicherheit hervor, daß die ungeheure Masse
sogenannter falscher Bilder unmöglich von einem einzigen
Menschen hergestellt sein konnte.

Zwischen Faille und Wacker entspinnt sich nun der
große Kampf, in dem endlich die dritte legendäre Persön-
lichkeit auftritt, die nicht mehr mit dem Reiche der Kunst,
sondern mit dem der Justiz verbunden wird. Wie in vielen
alten Märchen, so entscheidet auch hier am Ende der weise
Richter kraft der göttlichen Allmacht und des göttlichen
Allwissens, die ihm beigelegt werden. Die legendenhafte
Konstruktion wird offenkundig, wenn die letzte Entscheidung
über echt und falsch in die Hände eines Mannes gelegt
wird, der den Namen Justi trägt.

Der Gegenstand des Streites erscheint heute unwesent-
lich, da unsere Apparate auf automatischem Wege Bilder in
jeder beliebigen Art und Zahl herstellen und vervielfältigen,
die Frage nach einem persönlichen Verfertiger also belang-
los geworden ist. Dieser Kampf zwischen der Fehlbarkeit
des Kenners und der Tüchtigkeit des Fälschers, der nur
durch die höchste Einsicht der Gerechtigkeit entschieden
werden kann, gewährt aber einen hochinteressanten Ein-
blick in die Anschauung vom Wesen des Kunstwerks,
die unsere Vorfahren des zwanzigsten Jahrhunderts be-
herrscht hat.

219
 
Annotationen