Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe (28.1930)

ZEICHNUNGEN AUS DEM NACHLASS VON DEGAS

VON

MARIE LOUISE BATAILLE

Wenn das berühmte Wort: „Das Genie ist eine
lange Geduldsprobe", Berechtigung hat, so
trifft es bei keinem Künstler mehr zu als bei Degas,
denn sein Genie entfaltet sich in der Arbeit und
anfangs ist das Wesen seiner Begabung Fügsamkeit,
sogar Unterwürfigkeit.

Degas war in seiner Jugend nahezu ein Re-
aktionär. Obwohl er zu einer Zeit auftrat, als der
Künstler das Recht beanspruchte, seine individu-
elle Vision der Umwelt zu gestalten, hatte er nichts
Neues zu sagen. Weder empfand er das Bedürf-
nis, zu verblüffen, noch wurde er von jener ju-
gendlichen Begeisterung und revolutionären Ge-
sinnung erfaßt, die damals in so manchem Winkel
der Klassizisten-Ateliers aufflammte. Statt dessen
arbeitete er, sah zu, wie die anderen arbeiteten
und er suchte sich in seinem Handwerk zu ver-
vollkommnen, indem er ruhig und stetig, ohne
vorgefaßte Meinung, seines Weges ging. Der
Rhythmus seiner Entwicklung ist zögernd, je nach-

dem er seine Entdeckungen vor der Natur und
vor den Meistern macht. Zweifellos wurde auch
er durch den Kontakt mit einer Literatur, die zum
erstenmal in der Geschichte der Künste ihre Im-
pulse von den Künstlern empfing und diesen wie-
derum die Gesetze vorschrieb, nach und nach für
die neuen Theorien gewonnen. In gewissenhafter
Arbeit aber wollte er die Berechtigung der Theorien
prüfen. Dabei verloren sie das Absolute und jene
Verranntheit, die so viele Talente verpfuscht hat.
Allmählich, indem er seine Technik vereinfacht,
indem er mit Intelligenz seine Persönlichkeit zum
Ausdruck bringt, findet er eine so starke, so ori-
ginale Form, daß sie etwas vom Genie hat: es ist
der Sieg der Arbeit.

Wir halten es für ein ebenso nützliches wie
reizvolles Unternehmen, an der Hand der Zeich-
nungen von Degas, wie sie in den Mappen ent-
halten sind, die einzelnen Etappen dieser mühe-
vollen Eroberung zu verfolgen.

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