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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 30.1931

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Heft 1
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Basler, Adolphe: Retrospektive Ausstellungen in Paris
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https://doi.org/10.11588/diglit.7612#0041
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RETROSPEKTIVE AUSSTELLUNGEN IN PARIS

VON

ADOLPHE BASLER

Toulouse-Lautrec im Pavillon de
Marsan; Meister des neunzehnten Jahr-
hunderts in der Galerie Paul Rosen-
berg; Degas und Claude Monet in der
Orangerie; Jongkind in der Gallerie
Marseille; Matisse in der GallerieGeorge
Petit; Cezanne in der Gallerie Bernheim
leime.

Der Frühling und die Sommermonate haben diesmal eine
Fülle von instruktiven Ausstellungen gebracht.
Im Pavillon Marsan gab es eine ausgezeichnete retrospek-
tive Ausstellung von Werken Toulouse-Lautrecs. Seine Zeich-
nung erinnert in ihrer Bestimmtheit an die dekorative Grazie
eines japanischen Holzschnitts. Dieser scharfe Beobachter
einer Jahrhundertwende ist nicht ganz so herb wie Degas,
aber geistig ist er vielleicht noch unerbittlicher. Sein noch
Uüchrigerer Kontur packt in humorvollen Verkürzungen die
Verschrobenheiten der menschlichen Natur, und die Groteske
erhebt sich bei ihm zur großartigen Charakterstudie.

Ein Dummkopf im Lager der Kunstkritiker, der sich gern
als Vorkämpfer aufspielt, hat in einer seiner Kritiken be-
hauptet, daß Pascin und Grosz als Zeichner Lautrec über-
treffen. Der arme Pascin, der einen wahren Kultus mit Lautrec
betrieb, hätte sicher eine solche Geschmacklosigkeit verächt-
lich zurückgewiesen!

Paul Rosenberg brachte eine Auswahl von Meisterwerken
des neunzehnten Jahrhunderts, die mit Ingres begannen und
über Daumier, Courbet, Renoir, Cezanne etc. bis van Gogh
gingen. Diese Ausstellung war ein unvergleichlicher Genuß.
Das Wunder, Corot als Figurenmaler, fand nur seinesgleichen
in Ingres kleiner Odaliske aus der Sammlung Hatvany. Aber ^
während eine Figur des Meisters von Montauban durch ihre
Modellierung die Vollendung einer antiken Skulptur erreicht,
mahnen uns die so einfachen und suggestiven Figuren Corots
an die Anmut gewisser gotischer Gestalten. Das Wunder —
es läßt sich nicht anders ausdrücken — der Kunst von Ingres
und Corot wirft ihren Glanz über die ganze moderne Malerei.

*

Wie sehr Degas im Bann Ingres' stand, geht offensicht-
lich aus einigen seiner ersten in der Orangerie ausgestellten
Werke hervor. Bei Degas herrscht nicht nur jener Pessi-
mismus, der der Welt grollend den Spiegel vorhält, der
systematisch einen „Kultus der Häßlichkeit" treibt und die
„Difformite", die „Eckigkeit der Bewegungen" sucht; es
herrscht in seinem Werk auch jene hohe Intelligenz, der
die klassische Tradition von Poussin bis Ingres angeboren
war. Nur daß die Form der Ingresschen Reinheit bei Degas
leidenschaftlicher wird, da sie eine Funktion innerhalb der
vom Künstler geschaffenen Atmosphäre auszuüben hat.

*

Wie Degas von Ingres besessen war, so übte Corot auf
Monet einen Einlluß aus, der in dessen vorimpressionisti-
schen Werken sowie in denen seiner ersten impressionisti-
schen Periode sichtbar wird. Bis sich der Meister von Gi-

verny dann in den orthodoxen Impressionismus seiner An-
sichten der Themse und der „Wasserrosen" versenkte. Aller-
dings hatten die Naturstudien Corots ausschließlich den
Zweck, die Atelierarbeit vorzubereiten, während Monet direkt
und systematisch im Freien arbeitete.

*

Wie viele Übereinstimmungen der Weg eines Claude
Monet, der bis zur Auflösung aller Formen führte, mit der
heutigen Entwicklung eines Henri Matisse zeigt! Die Aus-
stellung dieses Künstlers findet in einem in den Annalen
künstlerischer Veranstaltungen ungewohnt prächtigen Rah-
men statt. Ihre Eröffnung mit Cocktails und alter Musik war
zweifellos ein größerer Publikumserfolg, als die in der
Gallerie Marseille stattfindende Ausstellung von Werken
Jongkinds, diesem Vorläufer des Impressionismus, diesem
meisterlichen Bohemien, dessen Wunderwerke übrigens nicht
einer lärmenden Publizität bedürfen.

Für uns liegt das Verführerische des vorauseilenden Mo-
dernismus eines Jongkind nicht so sehr in der manuellen
Geschicklichkeit und in den geistigen Errungenschaften, als
in der Naivität seiner Auffassung und in der Ehrlichkeit,
mit der er gestaltete. Und so ordnet Signac ihn, unbescha-
det seines Holländertums, in die Reihe der „Meister der
französischen Schule" ein.

Die Gabe der Synthese, der sozusagen schematischen Re-
duzierung einer Landschaft auf das Wesentliche resultierte
bei Jongkind aus seiner Fähigkeit blitzschneller Beobach-
tung. Die Notizen in seinen Skizzenbüchern — in denen
er mit wenigen Bleistiftstrichen eine natürliche Struktur und
mit ein paar Tuschflecken die flüchtigste Lichtwirkung wieder-
gab — übermitteln von seinen Anfängen in Holland an bis
zu seinem Tode in der Dauphine, eine erstaunliche Fülle
von Dokumenten. Seine Bilder malte er, wie er selbst an-
gibt, nach Aquarellen, die vor der Natur entstanden sind.
Und diese „Arbeitsmethode" sichert nach dem Ausspruch
von Paul Colin Jongkinds Werk die wirkliche Originalität
und Dauer.

Sein Kolorit hält sich in einer hellen Skala von „Silber-
grau", seine Technik macht keine Entwicklung durch. Erst
im Jahre 1875 malte er als erster in pointillistischer Tech-
nik. Er wurde Vorläufer von Seurat und Pissarro, indem er
diese bisher nur im Aquarell angewendete Technik nun auch
in der Malerei einführte.1

Diesen „Bruder" des Delfter Vermeer, der anfangs die
Mühlen und Kanäle, die Schlittschuhläufer und den Mond-
schein seines holländischen Vaterlandes, dann den Hafen von
Honfleur, Paris und später die Dauphine gemalt hat, der im
Jahre 1862, um mit Boudin zu sprechen, die Tür „'aufstieß',
durch die dann alle Impressionisten eintraten," begrüßte Manet
als den Vater der Schule der modernen Landschaftsmalerei.

*

1 Claude Roger-Marx, Vorwort zum Katalog der Jongkind-Ausstel-
lungen in der Gallerie I.eon Marseille. Paris 1931.

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