König Lear
m.br. „Hochverehrter Meister", schrieb ich an Vassermann,
„Ihr Lear ist gigantisch, riesenhaft, abgrundtief, herrlich —
nur konnte ich bei dem Räuspern, Spucken, Glucksen,
Schnurgeln, Husten, Kölstern, Röcheln und Würgen, das
ihn besonders in der Szene auf der Heide. im dritten Akt
so furchtbar quälte, die Worte — Shakespeares nicht gut
hören!"
„Sie sind ein ihdjolt,“ erwiderte mir der Künstler
brieflich in seiner hübschen und ausdrucksfähigen phonetischen
Schreibweise, „ain kallp, ain ründfih! Ferschtehn sie mich,
sie tummes rünozeroß!“
Diese freundlichen, aufmunternden Worte veranlaßten
mich, den Mimen in seiner Wohnung persönlich in der
erwähnten Angelegenheit zu interpellieren.
„Wie alt schätzen Sie ungefähr den König Lear?"
fragte mich Bassermann, indem er gleich in medias res ging.
„Ungefähr 70—80 Jahre."
„Gut. Wie Sie wissen, hat sich der alte Herr, wenn
er im dritten Akt auftritt, schon einige Tage bei sehr
schlechtem Wetter auf freier Heide, im eisigen Nordwind,
nur sehr notdürftig bekleidet, herumgetrieben, muß also —
verstehn Sie mich! — nach menschlicher Berechnung einen
Rachen-, Lungen-, Nasen-, Kehlkopf- und Halskatarrh, vor
allem aber eine Verschleimung der Luftwege und Sprach-
werkzeuge haben, die ein lautes, deutliches Sprechen — ab-
gesehen davon, daß ein gebrechlicher Mensch in diesem Alter
an und für sich nie und nimmer so lange Satzperioden, wie
sie der Dichter dem ,LeaL in der Heideszene in den Mund
legt, reden kann — einfach ausschließt. — Seinen blöd-
sinnigen Schnupfen habe ich dabei überhaupt noch nicht
in Anrechnung gebracht."
„Dann ist doch aber Shakespeare, wenn er einen
solchen ,Lear' dichtet, der bei hochgradiger Influenza eine
so starke, herrliche, machtvolle und zusammenhängende
Sprache redet, — ainfach ain ihdjott, ain kallp, ain ründvieh!“
Bassermann nickte beistimmend und warf mich, da er
die Angelegenheit nunmehr als erledigt betrachtete, die
Treppe hinunter.
v. Der wölfische Nienburger „Deutsche Volksbote" be-
grüßte die Welfenversammlung, auf der Freiherr o. Schele
kürzlich des Herzogs von Cumberland Einverständnis zur
Fortsetzung des Kampfes gegen Preußen und das Reich
verkündete, mit folgenden Worten:
„Wenn einer, den der Hunger plagt
Und der am Leben schier verzagt,
Ein Brötchen nahm und schuldig blieb,
Der gilt vor aller Welt als Dieb.
Doch fällt dem Nachbar man ins Land
Mit Heeresmacht und Mord und Brand,
Reißt Krone ihm und Macht vom Haupt,
Nachdem man ihm fein Land geraubt —
Dann wird gefeiert man als Held,
Das ist Gerechtigkeit der Welt:
Der kleine Dieb wird streng gerichtet,
Der große wird als Held bedichtet."
Das treffliche Blättchen hat leider nur zu recht. Und
jeder Fühlende wird es gewiß mit ihm beklagen, daß der
„große Dieb", der dem Nachbarn Krone und Land raubte
und als Held „bedichtet" wird, ausgerechnet König Wilhelm I.
und nicht König Georg V. von Hannover war. Das ist um
so mehr zu bedauern und zu bejammern, als in letzterem
Fall der „große Dieb" Georg gewiß von dem herrlichen
Barden als Held bedichtet worden wäre, der jene oben an-
geführten gewaltigen Klänge seiner unsterblichen Leier
entlockt hat. Mit welcher Begeisterung hätte der welfische
Homer wohl den hehren Monarchen gefeiert, der zum
Überfluß sogar seinem eigenen Volke schon Erhebliches ge-
nommen hatte, nämlich die mühsam errungene freie Ver-
fassung. Ach, um was für einen herrlichen Heldensang ist
doch die Welt gekommen!
flfrmanmrut
m.br. „Hochverehrter Meister", schrieb ich an Vassermann,
„Ihr Lear ist gigantisch, riesenhaft, abgrundtief, herrlich —
nur konnte ich bei dem Räuspern, Spucken, Glucksen,
Schnurgeln, Husten, Kölstern, Röcheln und Würgen, das
ihn besonders in der Szene auf der Heide. im dritten Akt
so furchtbar quälte, die Worte — Shakespeares nicht gut
hören!"
„Sie sind ein ihdjolt,“ erwiderte mir der Künstler
brieflich in seiner hübschen und ausdrucksfähigen phonetischen
Schreibweise, „ain kallp, ain ründfih! Ferschtehn sie mich,
sie tummes rünozeroß!“
Diese freundlichen, aufmunternden Worte veranlaßten
mich, den Mimen in seiner Wohnung persönlich in der
erwähnten Angelegenheit zu interpellieren.
„Wie alt schätzen Sie ungefähr den König Lear?"
fragte mich Bassermann, indem er gleich in medias res ging.
„Ungefähr 70—80 Jahre."
„Gut. Wie Sie wissen, hat sich der alte Herr, wenn
er im dritten Akt auftritt, schon einige Tage bei sehr
schlechtem Wetter auf freier Heide, im eisigen Nordwind,
nur sehr notdürftig bekleidet, herumgetrieben, muß also —
verstehn Sie mich! — nach menschlicher Berechnung einen
Rachen-, Lungen-, Nasen-, Kehlkopf- und Halskatarrh, vor
allem aber eine Verschleimung der Luftwege und Sprach-
werkzeuge haben, die ein lautes, deutliches Sprechen — ab-
gesehen davon, daß ein gebrechlicher Mensch in diesem Alter
an und für sich nie und nimmer so lange Satzperioden, wie
sie der Dichter dem ,LeaL in der Heideszene in den Mund
legt, reden kann — einfach ausschließt. — Seinen blöd-
sinnigen Schnupfen habe ich dabei überhaupt noch nicht
in Anrechnung gebracht."
„Dann ist doch aber Shakespeare, wenn er einen
solchen ,Lear' dichtet, der bei hochgradiger Influenza eine
so starke, herrliche, machtvolle und zusammenhängende
Sprache redet, — ainfach ain ihdjott, ain kallp, ain ründvieh!“
Bassermann nickte beistimmend und warf mich, da er
die Angelegenheit nunmehr als erledigt betrachtete, die
Treppe hinunter.
v. Der wölfische Nienburger „Deutsche Volksbote" be-
grüßte die Welfenversammlung, auf der Freiherr o. Schele
kürzlich des Herzogs von Cumberland Einverständnis zur
Fortsetzung des Kampfes gegen Preußen und das Reich
verkündete, mit folgenden Worten:
„Wenn einer, den der Hunger plagt
Und der am Leben schier verzagt,
Ein Brötchen nahm und schuldig blieb,
Der gilt vor aller Welt als Dieb.
Doch fällt dem Nachbar man ins Land
Mit Heeresmacht und Mord und Brand,
Reißt Krone ihm und Macht vom Haupt,
Nachdem man ihm fein Land geraubt —
Dann wird gefeiert man als Held,
Das ist Gerechtigkeit der Welt:
Der kleine Dieb wird streng gerichtet,
Der große wird als Held bedichtet."
Das treffliche Blättchen hat leider nur zu recht. Und
jeder Fühlende wird es gewiß mit ihm beklagen, daß der
„große Dieb", der dem Nachbarn Krone und Land raubte
und als Held „bedichtet" wird, ausgerechnet König Wilhelm I.
und nicht König Georg V. von Hannover war. Das ist um
so mehr zu bedauern und zu bejammern, als in letzterem
Fall der „große Dieb" Georg gewiß von dem herrlichen
Barden als Held bedichtet worden wäre, der jene oben an-
geführten gewaltigen Klänge seiner unsterblichen Leier
entlockt hat. Mit welcher Begeisterung hätte der welfische
Homer wohl den hehren Monarchen gefeiert, der zum
Überfluß sogar seinem eigenen Volke schon Erhebliches ge-
nommen hatte, nämlich die mühsam errungene freie Ver-
fassung. Ach, um was für einen herrlichen Heldensang ist
doch die Welt gekommen!
flfrmanmrut
Werk/Gegenstand/Objekt
Pool: UB Kladderadatsch
Titel
Titel/Objekt
Aecht Patzenhofer
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Kladderadatsch
Sachbegriff/Objekttyp
Inschrift/Wasserzeichen
Aufbewahrung/Standort
Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Inv. Nr./Signatur
G 5442-3 Folio RES
Objektbeschreibung
Maß-/Formatangaben
Auflage/Druckzustand
Werktitel/Werkverzeichnis
Herstellung/Entstehung
Entstehungsdatum
um 1914
Entstehungsdatum (normiert)
1909 - 1919
Entstehungsort (GND)
Auftrag
Publikation
Fund/Ausgrabung
Provenienz
Restaurierung
Sammlung Eingang
Ausstellung
Bearbeitung/Umgestaltung
Thema/Bildinhalt
Thema/Bildinhalt (GND)
Literaturangabe
Rechte am Objekt
Aufnahmen/Reproduktionen
Künstler/Urheber (GND)
Zeitpunkt Aufnahme (normiert)
2008-10-22 - 2008-10-22
Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
In Copyright (InC) / Urheberrechtsschutz
Creditline
Kladderadatsch, 67.1914, S. 54
Beziehungen
Erschließung
Lizenz
CC0 1.0 Public Domain Dedication
Rechteinhaber
Universitätsbibliothek Heidelberg