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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 13,1.1899-1900

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Heft 4 (2. Novemberheft 1899)
DOI Artikel:
Avenarius, Ferdinand: Unser Weihnachtskatalog, [6]: Philosophie
DOI Artikel:
Avenarius, Ferdinand: Unser Weihnachtskatalog, [7]: Naturwissenschaften
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https://doi.org/10.11588/diglit.7959#0176
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Bischer, Aesthetik snur noch antiquarisch
zu kaufen).

Das Schöne und die Kunst (St.,
Cotta, g. M. 7).

Kritische Gänge (L., Reisland, M. 7,
neue Folge. St., Cotta, M. 13.50.
Altes und Neues. (2 Bde. g. M. 28).
Whitney-Jolly, die Sprachwissenschaft
(M., Ackermann, br. 10.—).

Wundt, Vorles. ü. Menschen- u. Tier-
seele (H. Voß, g. M. 14).
Grundriß der Psychologie (Lpzg.,
Engelmann, geb. M. 7).

Ethik (St., Enke, g. M. 17).

Zeller, Gesch. d. griech. Philosophie
(L., Reisland, geb. M- 6.607
! Ziegler, Die geistigen und sozialen
Strömungen deS neunzehnten Jahr-
hunderts (B., Bondi, g. 12.50).

Oaturvmssenscdakten.

Das neunzehnte Jahrhundert liegt im Sterben, und es wird nun bald
Raum, daß man ordentlich darauf schelten darf. So sei der Satz schon jetzt hieher
gesetzt, daß alle, die in ihm Naturgeschichte zu popularisieren suchten, arme
Märtyrer waren. Sie bekamen Prügel, ohne dafür zu können, und, noch
schlimmer, sie wurden vielfach auf den Händen getragen von solchen, die im
Punkte des Urteils überhaupt nicht in Frage kamen. Das hatte seine Ursache
in einer sonderbaren Bildungs-Frage. Vor sechzig und einigen Jahren hat
der alte Oken eine zehnbändige Naturgeschichte „für alle Stände" heraus-
gegeben. Das war brav demokratisch, aber eine fürchterliche Renommage.
Schließlich dachte er mit all seiner biblischen Bauernsprache doch nur an einen
einzigen Stand: die Gebildeten. Und daran haben sie nlle gedacht, die Märtyrer.
Aber das Unglück wollte in Liescm erhabenen Jahrhundert, daß der Begriff
des „Gebildeten" darin überhaupt noch keine simpelste Voraussetzung für
naturwissenschaftliche Weiterbildung umschließt. Jch rede jetzt dabei nicht von
Berliner Premieren-Ausschuß. Jch nehme den Gebildeten so echt, wie nur
irgend eben im Jahrhundert denkbar war. Beinah mit der Allgemeinbildung
eines außerordentlichen Professors oder mindestens besseren Privatdozenten,
abgesehen von seinem zufälligen Spezialfach. Jch kann mich mit diesem
Menschen ganz unzweifelhaft über einen ganz wunderbar weiten Ausschnitt
Welt unterhalten. Er hat Homer gplesen („ein wirklich Gebildeter soll ein der-
artiges Menschheitsdenkmal unbedingt sogar in der Originalsprache gelesen
haben", lasse ich mir von ihm sagen), er zieht Vergleiche zwischen Faust und
Hamlet, zitiert'Schopenhauer, ist über alle wichtigen Kunstwerke Michel Angelos
und Rafaels aus Photographieen oder sogar eigener Anschauung unterrichtet
und kennt den Umriß der Weltgeschichte von Schliemann bis auf Treitschke.
Derselbe Gebildete hat aber keine Ahnung von Naturgesetzen, die sein Zimmer-
telephon und den Telegraphendraht über seinem Dache möglich machen; er
begießt täglich seine Pslanzen auf dem Blumentisch, ohne sie zu kennen oder
überhaupt zu wissen, was eine Pslanze für ein Wesen ist; er kennt den Pslaster-
stein nicht, auf dem er ein Menschenalter lang läuft, kennt das Holz seiner
Diele nicht und weiß nicht, daß der prachtvolle Stern, der dort am Winter-
abend über den Bäumen blitzt, der Sirius ist; er kennt auch die Bäume selber
nicht, und wenn in seinem Goethe über schroffen Fichtenhöhen der Adler aus-
gebreitet schwebt, so weiß er nicht, was eine Fichte ist, hält seine mürkische
Kiefer dafür oder denkt überhaupt nicht nach oder, im allergünstigsten Falle,
er holt sich das Konversationslexikon. Ja, in der zweiten Hälfte des neun-
zehnten Jahrhunderts hat der Gebildete wirklich einen Ruck hieher bekommen.
Er lebt doch schließlich auch in seiner Zeit und merkt, daß er etwas thun
muß. Gut, jetzt komnrt also die „populäre Naturwissenschaft". Er nimmt sie
mil Freuden auf. Jetzt sagt sie ihm aber: „Lieber Freund, Du liesest zwar Faust
und studierst Rafael, aber für mich hast Du einfach Kinderbüchschen an mit
einem offenen Schlitz und Hemdzipfel hinten, und auf diesem Fuße wollen wir
verkehren." „Na nu!", sagte der Gebildete und wendet sich knurrig zurück.
Eigentlich hat er ja recht. Jn dem Tone gehts nicht, und er legt die Bücher
sort, die es rnit dem reinen Embryonenalter probierten. Seinerseits der Popu-
larisator (das deutsche Wort sehlt halt auch noch) lernt etwas, geht in sich
und versuchts anders. Sein Mann ist sa ästhetisch, philosophisch, politisch,
und sonst noch wer weiß wie, vollständig „ausgewachsen". Fassen wir ihn so
und schlagen die Brücken sür ihn vom Bekannten aus. Jetzt kommen statt der

Auvüwart

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