Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 13,1.1899-1900

DOI Heft:
Heft 4 (2. Novemberheft 1899)
DOI Artikel:
Avenarius, Ferdinand: Unser Weihnachtskatalog, [7]: Naturwissenschaften
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.7959#0177

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Kinderbücher die Mischbücher: halb populäre Naturwissenschaft, halb Philosophie,
das Narurgeschichtliche gleich in weltanschaulicher Sauce, Tierleben oder Stern-
kunde in ästhetischem Gewande, alles in modernste Allgemeinprobleme aus-
gepinselt, mit knallenden Farben aus den möglichst verwandten und schon vor-
handenen Requisiten des Gebildeten. Diesmal gefällts dem Gebildeten selber
ausnehmend gut. Er ist als reifer Kerl respektiert und bekommt doch allerlei
Neues mit. Üeber Homer oder Rafael oder auch über den Weltregenten selber
oder die Polemik gegen diesen oder sonst irgend wie wird er auf den Sirius
gebracht, und am Ende hängt noch gar die Pflanze auf feinem Blumentisch
und das Härlein auf feiner Nase mit diesem Allerwichtigsten zusammen, kommt
in ein neues Licht, wird „sonderbar" im Sinne Jean Pauls — also! Diesmal
gehts aber dem Popularisator wie Sancho, den die Windmühlen in Ruhe
lassen, dafür aber sein eigener Herr plötzlich prügelt. Jetzt fchreit ihn der
Fachnaturforscher an, was all diese philosophischen, äfthetischen und Summa
Summarum-Schnurrpfeifereien mit einfacher nackter Ueberlieferung der natur-
wissenschaftlichen Ergebnisfe zu thun hätten? Unter uns: der Naturforscher
hat auch wieder bedingt recht. Es ist wahr, daß es seine große Gefahr hat,
zum Beispiel populäre Naturwisfenschaft gleich in einer beftimmten philo-
sophischen Sauce anzusetzen. Mit dem Aesthetischen ist es deswegen harmloser,
weil die strenge Forschung diese Seite nicht ebenso einfeitig ignoriert, alfo
einem offenen und groben Manko bei ihr wenigstens ein Plus zu Hilfe kommt,
mags auch in nur zu vielen Büchern immerhin ein Sammelsurium werden;
die meisten braven Popularisatoren kommen fa nun einmal aus jener ein-
seitigen Naturforschung allein, fühlen fpäter erft dumpf die Notwendigkeit der
äfthetischen Mischung und färben nun täppisch grob auf das ledcrne Museums-
hafte auf, ohne den Kern zu fafsen. Wie es nun damit im Engeren fei: auch
hier gibts Märtyrer.

Doch die Einleitung längt fich weit über das Weihnachtskataloghafte
hinaus, und ich ftrebe ans Ziel. Die Sachlage ist gekennzeichnct. Die Devise
der Augenblickswelt aber ist das heilige „Trotzdem". Jch nenne alfo ein par
Schichten Märtyrerarbeit hier, die der „Gebildete" einstweilen zerkauen möge,
bis wir alle in ein neues Jahrhundert der echteren Bildung und wirklich
bildungstümlichen Naturforschung auferstanden sind. Jch verzichie dabei aber
auch auf jede Anordnung, denn die kann kein Mensch in ein par Zeilen ver-
langen.

Ein altes unvermüstliches Buch ist Humboldts „Kosmos". Obwohl
viel später gefchrieben, ftammt es in jeder Zeile aus Goethes äfthetischer
Epoche. Man lefe sich in den umständlichen Stil ein, wie in dcn von „Wahr-
heit und Dichtung". Die erften beiden Bände find mit geringen Ausnahmen
noch heute gediegenes Gold, und wer die einmal in sich hat, kann sich auch
hier herüber „gebildet" nennen, im Sinne eines Anfangsbegriffs, und weiter
gehen. Die „Ansichten der Natur" sind anregend im höchften Grade,
aber ohne das Umfassende jener gewaltigen Vorschule. Wer jetzt wirklich
weiter will, lese Häckels „S ch ö p f u n g s g e s ch i ch t e". Da ift er mitten im
Durcheinander-Betrieb schon von Philofophie und Naturforschung. Aber zu-
gleich kommt ein Hauch modernen unbedingt echten Fortschrittsdranges auch im
reinen Forschen über ihn, den Humboldt fo noch nicht hat. Ohnehin bleibt er
auch hier im Schatten Goethes. Das Buch ift ein liebes Buch, frisch und naiv,
dem er sein Leben lang nicht mehr als „Jndividuum" gram werden wird.
Will er sich jetzt naturphilosophisch bis ins Schwere, Kritische fortarbeiten, so
nimmt er Friedrich Albert Langes „Geschichte des Materialismus"
zur Hand. Auch dieses Buch hält ihn noch immer in der innerlichsten Art bis
zur letzten Zeile bei Goethe feft. Es wird ihn verleiten, gleichsam als Quellen-
ftudie Büchners „Kraft und S t o f f" zu lesen. Damit ift er dann freilich
ganz von Goethe weg, wenn er aber Lange dazu liest, kommt er um den
Schaden und wahrt fich doch die allgemeine Achtung auch vor diesen Sachen,
Lie im Jahrhundert doch einmal nötig waren; man muß durch das auch
einmal durchgegangen fein, um feine Zeit zu verstehen. Jch empfehle
noch ein Gegengift: Gustav Theodor Fechners „Die Tagesanficht
gegenüber der Nachtansicht". Darwin habe ich nicht erwähnt, da
ich ihn zu den ftrengsten Fachwerken rechne. Wer ein Fachwerk lesen will,
um aus unmittelbarer Quelle die reinste Quintefsenz dcr ethischen Methode im

2. Novemberheft
 
Annotationen