Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 13,1.1899-1900

DOI Heft:
Heft 11 (1. Märzheft 1900)
DOI Artikel:
Bachmann, F.: Zur Aufführung der Matthäus-Passion
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.7959#0420

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Lur Nuttübrung der /Dattdäus-DÄSSion.

Um die Osterzeit finden in jedem Jahr wieder an vielen Orten Auf-
führungen von Bachs Matthäus-Pafsion im Konzertsaale ftatt, auf die wir ein-
mal hinweisen möchten. Sie erfreuen fich nicht nur ftets eines beträchtlichen
Zulaufs, fondern auch, wie in der Preffe befonders heroorgehoben zu werden
pflegt, gar lebhasten Beifalls. Jn der That: wenn man an den Dirigenten
keine anderen Anforderungen ftellt, als daß er einen Chor mit dem Orchester
zusammenhalten kann, wenn man von den Soliften nicht mehr verlangt, als
daß fie Solo fingen können, wenn man einem Chor gegenüber keine weiteren
Ansprüche erhebt, als daß feine Mitglieder die Noten treffen, den Mund auf-
thun und dabei volle Töne herausbringen: dann kann man in der Regel fehr
befriedigt sein. Wer aber die Matthäus-Passion betrachtet als den musikalifchen
Ausdruck des tiefften mufikalisch-religiösen Geiftes auf germanischem Boden, den
kann nur Schmerz erfüllen bei einer derartigen Bchandlung.

Jst es möglich, daß gerade jetzt, wo gegenüber der Phrase und äußeren
Tonmache mit leidenfchaftlichem Eifer die Wahrheit des musikalifchen Aus-
drucks von Richard Wagner verfochten ward, gerade jetzt, wo dieser Meifter fo
viele persönliche Jünger hat, daß gerade jetzt auch nicht ein Sonnenftrahl der
Arbeit Richard Wagners auf Bachs Werk fällt?

Wie mag es kommen, daß oft gerade mit einem geschulten Kunstpersonale
die gröbsten Mißverhältnisfe bei der Aufführung der Matthäus-Passion zu Tage
treten? Denn leider lehrt die Erfahrung, daß man überall, wo man fich im
Befitze einer musikalischen, handwerksmäßigen Geschicklichteit befindet, auch die
Freiheit zu besitzen meint, das Beste, was das deutsche Volk auf diesem Gebiete
der Kunst besitzt, mit den gewöhnlichen, beftaubten Werktagshänden anzufassen-
Die Mitwirkenden mögen wohl im guten Glauben zumeist ihr Bestes geben,
aber das Beste trägt eben die Zeichen des Ursprungs aus einsm religiös flach
und üußerlich empfindenden Seelenleben. Für eine Matthäus-Pasfion genügt
es eben nicht, ein exakter Musiker zu scin, dazu gehört ein tiefes und anhalten-
des Sich-Versenken in die religiöse Gedankenrvelt, es gehört dazu, um mich
etwas modern auszudrücken, „ein Menfch zu fein", nicht ein Mensch des cle
8iecle, sondern einer mit etwas ssprit eternel. Was versteht der Darsteller
des Judas gemeiniglich von der trostlosen Schlechtigkeit diefes Menschen? Der
Ausdruck hätte ebenso gut für den Herold gepaßt, der zum Zweikampf ruft.
Und der Darsteller der schwierigen Rolle des Jesus? Gefühlsmache mit dem
üblichen, theatermüßigen lyrischen Pathos! Ein unangenehm wirkendes Gemisch,
— Rose mit Patfchouli. Selbst die dramatifche Pointierung, die leichter als die
Grundftimmung des Ganzen zu finden und zu geben ist, läßt viel zu wünschen
übrig. Nicht viel Besseres ift von den weiblichen Darftellern zu fagen. Freilich
erwartet man gerade vom Weibe, wo es feinem Befreier gegenüber tritt, eine
natürliche Selbstentäußerung und Demut in Wort und Ton, und man ist des-
halb umso fchmerzlicher berührt, auch hier den Ton wiederzufinden, der durch
die ganze moderne Kunst und Menfchheit klingt. Er entfteht aus dem un-
gesunden, den größten Teil des menschlichen Empfindens für fich aufsaugenden
Berhältnis des männlichen Geschlechtes zu dem weiblichen. Dieses Verhältnis
schafft die Grundftimmung der Seele der meiften der modernen Künftler; da
die Welt des Lcbens aber nicht aufgeht in dem Männlichen und Weiblichen,
fo ftehen die Meisten vor einer terra incogQitg., wenn fie wie hier eine andere,
noch dazu die allumfassende religiöse Welt vor sich haben. Wollen fie denn
Auustwart
 
Annotationen