DOI Heft:
Heft 3 (1. Novemberheft 1899)
DOI Artikel:Schielderup, Gerhard: Ist ein modernes realistisches Musikdrama möglich?
DOI Seite / Zitierlink: https://doi.org/10.11588/diglit.7959#0093
Zst ein modernes realistiscbes MusLkdrama
möglLcd?
Es ist allgemein bekannt, daß Wagner in urgermanischen Mythen
und altkeltischen Sagen seiner urwüchsigen Natur entsprechende Stoffe
fand. Er selbst gehörte zu den wenigen Persönlichkeiten, die der
Nwellierung unserer modernen Gesellschaft widerftehen konnten. Er war
wie eine Erscheinung aus uralten Zeiten, wie eine fagenhafte Kraftnatur,
die nur im Mythos ein ihren inneren Trieben entfprechendes Leben fand.
Ungeduldig kehrt er der ganzen Gegenwart den Rücken. Erst als Schopen-
hauer die uralte indische Weisheit neu belebte und entwickelte, fühlte
Wagner fich fympathisch berührt. Hatte er doch, ohne die indischen Dich-
tungen zu kennen, wahrhaft buddhifche Gedichte geschrieben. Nichts zeigt
deutlicher die sozusagen vorgeschichtliche Ursprünglichkeit des wagnerischen
Genius, die ihn befähigt, die alten Helden- und Götter-Sagen an Kraft
und architektonischer Größe zu erreichen, an innerer Vertiefung und Fein-
heit des Seelenlebens weit zu überragen. Wenn aber die Jünger des
Meifters die Sage als den alleinberechtigten Vorwurs des musikalifchen
Dramas betrachten, fo überfehen fie zunächft fchon, daß Wagner felbst
auf gefchichtlichem Hintergrunde die „Meifterfinger" fchuf. Zu-
dem jedoch schließt der Mythos in fich auch eine große Gefahr:
Nur ein Genie, das die primitive Ursprünglichkeit alter Zeiten be-
sitzt, darf es wagen, den Mythos dramatisch zu oerwerten. Wehe dem
kleineren Geifte, der fich an diefen von heiligen Flammen umgebenen
Felsen heranwagt! Aber selbst, wenn es einem neuen Siegfried gelänge,
durch das Flammenmeer zu reiten, würde er kaum mehr die schlafende
Jungfrau finden. Brunhilde hat fich dem ersten siegreichen Helden ganz
hingegeben.
Wenn ich unseren Musikdramatikern von mythifchen Stoffen ent-
fchieden abraten muß — wo fuche ich dann die Zukunft des ernsten
Dramas? Wagner hat die Gefahren geschichtlicher Stoffe deutlich
nachgewiefen: die geschichtlichen Persönlichkeiten und Ereignisfe sind oft
Aunstwarl Novemberheft ^899
möglLcd?
Es ist allgemein bekannt, daß Wagner in urgermanischen Mythen
und altkeltischen Sagen seiner urwüchsigen Natur entsprechende Stoffe
fand. Er selbst gehörte zu den wenigen Persönlichkeiten, die der
Nwellierung unserer modernen Gesellschaft widerftehen konnten. Er war
wie eine Erscheinung aus uralten Zeiten, wie eine fagenhafte Kraftnatur,
die nur im Mythos ein ihren inneren Trieben entfprechendes Leben fand.
Ungeduldig kehrt er der ganzen Gegenwart den Rücken. Erst als Schopen-
hauer die uralte indische Weisheit neu belebte und entwickelte, fühlte
Wagner fich fympathisch berührt. Hatte er doch, ohne die indischen Dich-
tungen zu kennen, wahrhaft buddhifche Gedichte geschrieben. Nichts zeigt
deutlicher die sozusagen vorgeschichtliche Ursprünglichkeit des wagnerischen
Genius, die ihn befähigt, die alten Helden- und Götter-Sagen an Kraft
und architektonischer Größe zu erreichen, an innerer Vertiefung und Fein-
heit des Seelenlebens weit zu überragen. Wenn aber die Jünger des
Meifters die Sage als den alleinberechtigten Vorwurs des musikalifchen
Dramas betrachten, fo überfehen fie zunächft fchon, daß Wagner felbst
auf gefchichtlichem Hintergrunde die „Meifterfinger" fchuf. Zu-
dem jedoch schließt der Mythos in fich auch eine große Gefahr:
Nur ein Genie, das die primitive Ursprünglichkeit alter Zeiten be-
sitzt, darf es wagen, den Mythos dramatisch zu oerwerten. Wehe dem
kleineren Geifte, der fich an diefen von heiligen Flammen umgebenen
Felsen heranwagt! Aber selbst, wenn es einem neuen Siegfried gelänge,
durch das Flammenmeer zu reiten, würde er kaum mehr die schlafende
Jungfrau finden. Brunhilde hat fich dem ersten siegreichen Helden ganz
hingegeben.
Wenn ich unseren Musikdramatikern von mythifchen Stoffen ent-
fchieden abraten muß — wo fuche ich dann die Zukunft des ernsten
Dramas? Wagner hat die Gefahren geschichtlicher Stoffe deutlich
nachgewiefen: die geschichtlichen Persönlichkeiten und Ereignisfe sind oft
Aunstwarl Novemberheft ^899