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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 13,1.1899-1900

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Heft 1 (1. Oktoberheft 1899)
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Was wir wünschen
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Bartels, Adolf: Die Modernitis
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https://doi.org/10.11588/diglit.7959#0019

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Und dann ist nicht nur neu, was heute gemacht wird. Wir Deutschen
haben große und tiefe Künstler, deren Namen auch jeder kennt, deren
Gedanken- und Gesuhlswelt aber selbst den Gebildeten meist noch völlig
unbekannt und jedenfalls oon unsrer Geisteskultur noch nicht verarbeitet
ist. Die sind also auch „neu" für uns, denn wir besitzen nicht, was
irgendwo niedergelegt ist, sondern nur, was in uns lebt.

Jmmer und immer wieder: es kommt darauf an, was in uns

lebt.

Die /DodernMs.

Als ich vor Jahren in Frankfurt am Main lebte, lernte ich eine
Dame kennen, die ich nach längeren literarischen Gesprächen für sehr
gescheit erklären mußte. Sie schwärmte für Zola und wußte die wirk-
lichen Vorzüge dieses Schriftstellers ins hellste Licht zu fetzen. Es ver-
ging eine Zeit, da fand es fich, daß meine Bekannte nicht mehr für
Zola, fondern für Jbsen fchwärmte; auch desfen Vorzüge wußte fie ins
hellfte Licht zu fetzen. Und wiederum verging eine Zeit, und es fand
fich, daß Jbfen den Rusfen Tolstoj und Dostojewski Platz gemacht
hatte; die Begeisterung meiner Bekannten war nicht blind, fondern klar
und lichtvoll wie immer. Jch versuchte dann, ein guter Deutscher wie
ichs nun einmal bin, auch deutsche Schriftsteller von jener Begeisterung
profitieren zu lafsen, und machte meine Bekannte auf Gottfried Kellers
„grünen Heinrich" und die besten Sachen von Wilhelm Raabe aufmerk-
sam. Aber da kam ich fchön an, diese „altmodischen" Schriftsteller
konnte meine Dame gar nicht lesen — sie erholte sich erst bei Maupassant
von dem von mir auf sie versuchten Attentat. Als ich von Frankfurt
fchied, war fie bei Peter Nansen angelangt, und ihre Begeisterung war
echt, klar und lichtvoll wie immer. Heute, denk ich, wird fie mit
Gottes Hilfe über Marcel Prevost hinaus zu Gabriele d'Annunzio ge-
kommen fein. Es war, wie gefagt, eine sehr gescheite Dame, meine Be-
kannte, fie gehörte nicht zu der Herde der Oberflächlichen, welche die lite-
rarischen Moden wie die andern mitmachen, und lange war mir ihre
nur auf das Moderne geaichte Kunftempfindung ein Rätsel. Jnzwischen
habe ich eingesehen, daß sie die „Modernitis" hatte, eine Krankheit, die
in Deutschland zuerst im Zeitalter der Jungdeutschen, um f830 herum
auftrat, gleichzeitig mit der Cholera, dann wieder verschwunden fchien,
aber nun, feit f890 etwa, wieder ftark grassiert, ja geradezu endemisch
geworden ist.

Es find in der letzten Zeit verschiedene Bücher erschienen, die vor-
trefflich geeignet sind, die Kcankheit ftudieren zu lassen und das Krankheits-
bild zu gewinnen. Vor allem nenne ich da das Essaybuch „Präludien"
von Franz Servaes und „Die moderne Literatur in Gruppen- und
Einzeldarstellungen" von Arthur Moeller-Bruck, beide Werke
im Verlage von Schuster L Loeffler zu Berlin erschienen. Die „Prä-
ludien" find Hermann Bahr gewidmet, dessen Schriften ja ebenfalls
weitschichtigen Stoff zur Erkenntnis der Modernitis böten, dürfte man fie
nur ernft nehmen. Mit Servaes kann man das fchon eher thun, mit

t- Mktoberheft tLZS
 
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