DOI Heft:
Heft 6 (2. Dezemberheft 1899)
DOI Artikel:Dichtung und Kinderstube
DOI Seite / Zitierlink: https://doi.org/10.11588/diglit.7959#0229
Dicdtung und Ikinderstube.
Die erste gedruckte Jugenderzählung schon haben wir darauf anzu-
sehen, ob sie sür nnrkliche Poesie den jungen Geist vorbereite oder ver-
derbe — darüber sind roir jetzt einig. Aber schon v or dem ersten Lese-
buch kann hier verdorben, kann hier genützt rverden. Ein paar Worte
darüber unter dem Christbaum!
Der Mensch wiederholt in seinem Einzelleben die ganze Entwicklung
seines Geschlechts — das ist ein bekannter Satz, und die Darwinianer
halten viel daraus. Ob sie recht haben oder nicht, das wird keiner
bestreiten: daß die geistige Entwicklung des Kindes aus dem Tierischen
auswärts in das sozusagen „Naturmenschliche" geht und aus diesem erst
ins Kulturmenschliche. Das kleine Kind lebt wie der Naturmensch weit
mehr mit der Phantasie als mit dem Verstand; es überträgt, was es
in sich stndet, in weit höherem Grade als wir aus alles, wovon es
umgeben wird; es vermenschlicht alles, und was sich bewegt das scheint
ihm, sich zu bethätigen. Nur wer das im Auge behält, gewinnt Ein-
sluß aus seine Seele. Der Erzieher muß sich selbst Hineinleben in dieses
Phantasieleben, er muß mit dem Kinde auf seine Weise verkehren.
Das sind allbekannte Wahrheiten! Ja. Aber richtet man sich
danach? Und ist es all den Müttern und Vätern klar, daß die An-
eignungsweise der jungen Gehirne einsach die dichterische Aneignungs-
weise ist? Anschauen und beseelen aus dem eigenen Jch heraus, das
thut der Dichter wie das Kind. Des Dichters Anschauung und sein
beseelendes Jch sind sehr viel reicher, und dann gestaltet er ja auch
— aber die Art und Weise, die Welt auszunehmen, hat er gemeinsam
mit dem Kinde. Weiter: die Fähigkeit, aufzunehmen, bedeutet später
beim Erwachsenen nichts anderes, als: seine Empsänglichkeit sür Poesie.
Also: Wahre die Fähigkeit: aus kindliche Weise, durch die Phantasie, die
Eindrücke der Welt auszunehmen, und du wahrst damit zugleich die
Fähigkeit, spüter echte Dichtung zu genießen.
Annstwart 2. Dezemberheft ,890
21?
Die erste gedruckte Jugenderzählung schon haben wir darauf anzu-
sehen, ob sie sür nnrkliche Poesie den jungen Geist vorbereite oder ver-
derbe — darüber sind roir jetzt einig. Aber schon v or dem ersten Lese-
buch kann hier verdorben, kann hier genützt rverden. Ein paar Worte
darüber unter dem Christbaum!
Der Mensch wiederholt in seinem Einzelleben die ganze Entwicklung
seines Geschlechts — das ist ein bekannter Satz, und die Darwinianer
halten viel daraus. Ob sie recht haben oder nicht, das wird keiner
bestreiten: daß die geistige Entwicklung des Kindes aus dem Tierischen
auswärts in das sozusagen „Naturmenschliche" geht und aus diesem erst
ins Kulturmenschliche. Das kleine Kind lebt wie der Naturmensch weit
mehr mit der Phantasie als mit dem Verstand; es überträgt, was es
in sich stndet, in weit höherem Grade als wir aus alles, wovon es
umgeben wird; es vermenschlicht alles, und was sich bewegt das scheint
ihm, sich zu bethätigen. Nur wer das im Auge behält, gewinnt Ein-
sluß aus seine Seele. Der Erzieher muß sich selbst Hineinleben in dieses
Phantasieleben, er muß mit dem Kinde auf seine Weise verkehren.
Das sind allbekannte Wahrheiten! Ja. Aber richtet man sich
danach? Und ist es all den Müttern und Vätern klar, daß die An-
eignungsweise der jungen Gehirne einsach die dichterische Aneignungs-
weise ist? Anschauen und beseelen aus dem eigenen Jch heraus, das
thut der Dichter wie das Kind. Des Dichters Anschauung und sein
beseelendes Jch sind sehr viel reicher, und dann gestaltet er ja auch
— aber die Art und Weise, die Welt auszunehmen, hat er gemeinsam
mit dem Kinde. Weiter: die Fähigkeit, aufzunehmen, bedeutet später
beim Erwachsenen nichts anderes, als: seine Empsänglichkeit sür Poesie.
Also: Wahre die Fähigkeit: aus kindliche Weise, durch die Phantasie, die
Eindrücke der Welt auszunehmen, und du wahrst damit zugleich die
Fähigkeit, spüter echte Dichtung zu genießen.
Annstwart 2. Dezemberheft ,890
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