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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 13,1.1899-1900

DOI Heft:
Heft 11 (1. Märzheft 1900)
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Bachmann, F.: Zur Aufführung der Matthäus-Passion
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https://doi.org/10.11588/diglit.7959#0421

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doch den durch das religiöse Empfinden geschaffenen Jnhalt und seinen künft-
lerischen Ausdruck uns durch ihr Seelenleben vermittels ihres Organs üar-
bieten, so können wir uns nicht wundern, daß sie es in der Grundstimmung
ihrer Seele thun. Zumal, wenn sie der Meinung sind, daß ein moderner ge-
bildeter Mensch eben alles kann und eigentlich viel weiter ift in seinem Seelen-
leben, als so ein Hinterwäldler, der noch an die drei Artikel glaubt.

Jm Chore können derartige verschiedene Grundstimmungen des Seelen-
lebens nicht so zu Tage treten, wie bei dem Solosänger. Der Chor ist eine
geschlossene Masse, gegenüber der individuellen Nuancierung im Sologesang
zur Darstellung des Allgemeinen bestimmt, ohne deshalb ganz individueller Züge
zu entbehren. Der Chor gibt somit unter solchen Verhältnissen meist das beste
Teil ab. Aber auch er leidet unter der allgemeinen Stimmung. Jn dem vollen
Ton ist kein religiöser Schwung; aus den Chorälen spricht keine glüubige
Seele; es sind Töne, die in dem und dem Jntervall zu einander stehen, die
PILNO, die torte gesungen werden, die einen akustischen Wohllaut hervorrufen.
Aber sind das die Chöre Bachs, sind das die Choräle, die in der Resormations-
zeit durch ganz Deutschland klangen und die Sänger himmelwärts trugen?

Wir ftehen heute zu dem Jnhalte einer Matthäus-Passion in einem leider
gänzlich sremden Verhältnisse. Darüber hilft uns keine musikalische Würdigung
des Werkes, keine musikalisch unanfechtbare Jnterpretation hinweg. Und da
steckt der eigentliche Kern der Sache. Für die Aufsührung einer Matthäus-
Passion müssen Seelen gefunden werden, musikalische und religiöse Seelen. Sie
sind leider eine Seltenheit. Das Mißverhältnis, in welchen die ausübenden
Künstler zu dem Werke stehen, bekundet ebenso das Publikum, das mit dem
Künstler sa in derselben geistigen Lust, meist noch in etwas dickerer, aufwächst
und sich selten bemüht, in eine freiere zn kommen. Es sieht in der Aufführung
der Matthäus-Passion ein Konzert, in dem es feine Lieblinge einmal wieder
in einer besonderen Rolle zu hören bekommt. Jm besten Falle läßt es sich
durch die Passion sanft an die Charwoche und die Osterzeit erinnern und einige
wehmütige Empfindungen tauchen vielleicht in seinem Jnnern auf. Sonst aber
weiß es sich frei von dem Geist und Leben, das in einem Bach flutend ihn zu
diesen Tönen begeisterte. — Soll ich da noch an die alltägliche Wahrheit
erinnern, daß ein Kunstwerk nur verstanden werden kann, wenn sich der Mensch
liebend in die Welt des Künstlers zu versetzen vermag? Von dieser Fähigkeit
besitzt das weite Herz des Publikums eben nur wenig. Es mag nicht die
Welt des Leidens, die Welt des Geistes, kennen. Einen großen Mangel an
ivnerem Anftand beweist das Publikum übrigens dadurch, daß es seine Beifalls-
werkzeuge für die Aufführer nicht ruhen lassen kann, nachdem es eben die Welt-
tragik an der Person des liebenden Heilandes in den schmerzlichsten Tönen ver-
nommen I>at! Wer vermag sich vor ein Bild des leidenden Heilands hinzuftellen
und im selben Moment dem Künstler ein lachendes Bravo zu rufen? Wenn
fchon im Theater, besonders bei Tragödien, der Beifall etwas Widerliches ist
und der ernste Künstler sich in gewisfem Sinne verletzt sühlen muß, nm wie
vieles unnatürlicher ist der Beifall bei der Aufführung einer Matthäus-Passion i
Man wende nicht zur Entschuldigung ein: der Beifall gelte dem Künstler, abgesehen
von dem Jnhalt feiner Rolle. Künftler und Jnhalt ist nicht zu trennen, und
es ist umso trauriger, daß das Aeußere, die Person des Künstlers, gegenüber
dem Jnhalte plötzlich so in den Vordergrund treten kann. Wo soll da der
Nachklang im eignen Jnnern bleiben? Und wenn nun gar der Künstler vor

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