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Moderne Bauformen: Monatshefte für Architektur und Raumkunst — 5.1906

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Nr. 2
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Vetterlein, Ernst Friedrich: Unkonstruktive Kunstformen
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https://doi.org/10.11588/diglit.20726#0078
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UNKONSTRUKTIVE KUNSTFORMEN

VON PROFESSOR DR. ING. ERNST VETTERLEIN-DARMSTADT

Die Endfragen aller Aesthetik sind Fragen der Stiles unsrer Zeit, heute sehr erschwert durch
Psychologie. Für die En t w i c k e 1 u n g der die vielen widerstreitenden Anschauungen über das
Kunst hat die Beantwortung solcher Fragen im all- Wesen der Kunst und der Kunstform. Eine Klä-
gemeinen geringere Bedeutung gehabt. Immerhin rung der Ansichten hierüber erscheint für die Ent-
erscheint es wahrscheinlich , dass die früheren Wickelung der Kunst ebenso notwendig, wie natür-
Epochen Stilfragen sehr gewissenhaft aufgeworfen lieh andrerseits die schaffende Phantasie, die
und beantwortet haben, und sich durch stilistische nach den erkannten Prinzipien nun neu zu gestalten
Prinzipien mehr gebunden gefühlt haben als es vermag. V
angesichts ihrer phantasievollen Schöpfungen schei- V Als Beitrag zur Lösung der schwebenden Fragen
nen mag. Beim Bau, etwa einer gotischen Käthe- möchte ich an dieser Stelle einmal auf die Bedeu-
drale, konnten sie wohl nicht nur ganz naiv zum tung der Konstruktion in der Architektur hin-
Schönen streben. Schon das Portal einer solchen weisen. Gibt es doch eine grosse Anzahl Theo-
schliesst so zahlreiche Kunstprobleme in sich ein retiker und Künstler, die den Ausdruck der
und hat so viel Hände von seinem Entwurf an bis Konstruktion durch die Bauform für das
zur Fertigstellung in Bewegung gesetzt, dass zu Wesentliche halten. V
einer s t ü i s t i s c h - e i n h e i 11 i ch e n Lösung, einem V Wir müssen uns darüber klar sein: Bauen ist
Zusammengehen von Architektur und Plastik, die zwar nichts andres als konstruieren. Ist aber der
zielbewusste Erörterung und Beantwortung kunst- geschickte Konstrukteur zugleich auch Baukünstler?
theoretischer Fragen unumgänglich nötig er- Baukunst ist Bauen mit Kunst, also die Verbindung
scheint. Jene alten „Poliere" haben nicht bloss von Technik mit Kunst. Die Technik regelt die
aus ihrer Phantasie heraus „geboren", sondern mit zweckmässige Verbindung der Baumaterialien, die
bangen Zweifeln, kühnem Mute und scharfem Kunst aber appelliert an das Schönheitsempfinden.
Denken studiert und probiert. Sie haben nach Eine Wellblechbaracke kann nun ausgezeichnet
bestimmten, wenn auch ungeschriebenen Stilgesetzen konstruiert sein. Aber ist sie schon dann eine
gearbeitet, studiert und probiert, und die Ueber- Kunstform? Sie kann zu einer solchen werden,

einstimmung oder allgemeine Anerkennung solcher wenn die vom Verstände geregelten Konstruktionen

Grundgesetze ist das Wesentliche jeder Stilepoche, in besonderer Weise angeordnet und zusammen-

Die Prinzipien der Renaissance waren andere als gestellt werden, so dass ein das Auge befriedigen-

die der Gotik, nicht bessere und nicht schlechtere, der Eindruck herauskommt. Es ist also ausser der

nur andere. V Konstruktion noch ein zweites nötig, nämlich jenes

V Stilistische Prinzipien bilden also die Grundlage Taktgefühl, das der Technik ihre besonderen Wege
und das Unterscheidungsmerkmal der Stilepochen. weist und die Phantasie in gewissen Schranken hält.
Diezeitweilige allgemeine Anerkennung binden- V Bßi der Betonung des Konstruktiven der Bau-
der Gesetze seitens der Künstler führt dazu, form pflegt man in der Regel auf die Antike und
dass wir, obwohl sich unter abertausenden Kunst- auf die Gotik hinzuweisen. Sehen wir doch am
werken keine zwei gleichen finden, doch diese griechischen Tempel das Tragen und Lasten, die
grosse Masse in wenig scharf zu charakterisierende ganze innere Konstruktion so klar symbolisch an-
Stilgruppen zerlegen können. V gedeutet, indem die Triglyphen die Balkenköpfe

V Auch wir streben alle nach dem Stile unsrer der - nicht hinter ihnen liegenden Decke dar-
Zeit, der von unsrer Epoche ein rühmliches Zeug- stellen sollen! Also ein Konstruktionsmotiv — un-
nis ablegen soll. Tritt doch die Vergangenheit je- konstruktiv verwendet und doch die Betonung des
weils erst in den Denkmälern ihres Schaffens der konstruktiven Charakters der Antike aus diesem
Nachwelt näher. Ein Denkmal unsres Schaffens, Widerspruche abgeleitet. Man vergegenwärtige sich
unsrer Empfindung zu hinterlassen, ist wohl der nebenher auch einmal die stattliche Höhe dieser
Wunsch und die Triebfeder jeder künstlerischen Balkenköpfe, die z. B. beim Parthenon etwa manns-
Tätigkeit. V h°ch sind. Die Theorie der Triglyphen als Balken-

V Indessen wird die Erreichung dieses Zieles, des köpfe müsste schon an den Dimensionen scheitern,
 
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