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Moderne Bauformen: Monatshefte für Architektur und Raumkunst — 5.1906

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Vetterlein, Ernst Friedrich: Unkonstruktive Kunstformen
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https://doi.org/10.11588/diglit.20726#0079
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53

Unkonstruktive Kunstformen ~

denn sie bedeutet eigentlich einen Vorwurf künstle-
rischer Roheit. Wir symbolisieren doch auch nicht
Doppel-T-träger durch meterhohe Steinformen.*)

V Die Gotik als konstruktiver Baustil ist auch nicht
beweiskräftig, darzutun, dass die Bauform der Aus-
druck der Konstruktion sein müsse. Wohl mussten
die Gotiker bei ihren kühnen Problemen scharf
und geistreich konstruieren. Aber die Triebfeder
ihrer Konstruktionen war doch nicht der Wunsch,
konstruktiv zu sein, sondern ihr Ziel war die Er-
schaffung himmelanstrebender Formen und eben-
solcher Räume, also ein rein ästhetisches Ziel,
welches eben nur durch die Kühnheit der Kon-
struktion zu erreichen war. Die „Erfindung" des
Spitzbogens, den übrigens die romanische Kunst
schon vor der Gotik, namentlich an Turmbauten
zur Verwendung bringt, war nicht das Resultat
von Gewölbekonstruktionen. Die Gotik ist nicht
entstanden, weil man die Basilika überwölben wollte,
sondern sie ist entstanden aus der Sehnsucht, die
romanische Erdenschwere zu überwinden, die, an
horizontalen Gliederungen hängend, nicht das Ge-
fühl des Himmelstrebens erwecken konnte. Schon
vor der ersten gotischen Kirche ist dieses Streben
zu erkennen und zwar zuerst an romanischen Tür-
men, die doch gewiss mit der Ueberwölbung der
Räume nichts zu tun hatten. Man sehe sich darauf-
hin nur einmal die rheinischen romanischen Kirchen
an und man wird gewiss das allmähliche Aufkeimen
von Vertikaltendenzen bemerken. V

V Aber lassen wir auch diese Frage unentschieden:
Wie steht es mit den zahlreichen direkt unkon-
struktiven Formen, die die konstruktive Gotik ge-
bildet hat? Z. B. mit den Fächergewölben mit
hängenden oder schwebenden Stützen, wie sie
besonders schön in England zu finden sind? Auch
anderwärts, z. B. im gotischen Kreuzgang von
St. Stephan in Mainz, sind hängende Konsolen zu
sehen. Sind auch sie der symbolische Ausdruck
der Konstruktion? Und was sind Dachreiter für
konstruktive Glieder? Sind die bisweilen, z. B.
an den Türmen des Strassburger Münsters, vor
die Wandflächen vorgesetzten straffen Masswerks-
bildungen konstruktiv? Sind die luftigen, in ent-

*) Die Triglyphen scheinen mir eher veranlasst zu sein durch die Absicht,
die typischen Formen der Umgebung des Götterbildes, nämlich die in
Paestum noch erhaltenen doppelt übereinandergestellten Säulenreihen, nach
aussen hin, zu einer Einheit verschmolzen, wiedei zugeben. Die Griechen
w aren durch die Tradition in religiösen Dingen arg befangen. Haben sich
doch z. B. die Priester lange gesträubt, das Bild der Athena in den neuen
Parthenon überzuführen, und die alte Cella des kimonischen Parthenons,
seines Pterons beraubt, lange erhalten. Die typische Anordnung der
doppelten Säulenstellung im Innern geht vielleicht auf die Hofanlagen ar-
chaischer Herrscherburgen zurück, deren Fürsten oberste Feldherrn, oberste
Richter und oberste Priester waren, und die in ihren Burghöfen den Altar
der Gottheit behüteten.

zückend eleganten Fialen ausklingenden Balanciers
gotischer Strebesysteme ein richtiger Ausdruck
ihrer konstruktiven Bedeutung? Ist in ihrer Aus-
bildung durch die Gotik nicht eher ihr konstruk-
tiver Sinn verwischt? V

V Auch in anderen Stilgebieten finden sich zahl-
reiche u n k o n s tr u k t i v e Kunstformen. Es gibt
hängende Konsolen aus der Barockzeit. Die zahl-
reichen, so echt barocken Turmlösungen mit ihren
bauchigen Formen sind - konstruktiv gedacht

- ungeheuerliche Zerrformen, die dem Konstruk-
teur bedeutende Schwierigkeiten bieten. Schluss-
steine in geraden Fensterstürzen sind konstruktiv
unlogisch, wie doch überhaupt der Schlussstein im
Bogen statisch keine andere Funktion hat als
jeder andere Bogenstein, und darum eine Betonung
des Scheitels konstruktiv keinen Sinn hat. V

V Im Grunde genommen sind alle Wandgliederungen
unkonstruktiv, sowohl das Säulen- und Bogengerippe
römischer Wandbildungen wie die romanischen
Wandaufteilungen oder wie die barocken Lisenen-
gliederungen bei Stockwerksbauten. Sie sind rein
ästhetisch zur Gliederung der Baumassen verwendet,
und wenn sie manchmal auch die Funktionen von
Strebepfeilern erfüllen, so sind sie jedenfalls in
dieser ihrer konstruktiven Funktion nicht zum
Ausdruck gebracht. V

V Kurz die Erklärung der Bauform als Symbol
der Konstruktion findet unzählige Widersprüche in
den historischen Tatsachen. Haben sie nun aber
andrerseits nichts mit der Konstruktion zu tun?
Jedes Bauwerk muss konstruiert werden, und
aus den zur Errichtung verwendeten Materialien
entwickeln wir aus Zweckmässigkeitsgründen im
allgemeinen die Bauformen. Was aber ist der
Sinn, mit dem wir die reinen, zur Erfüllung der
praktischen Aufgaben unbedingt notwendigen Ma-
terialien in bestimmter Weise umbilden und
ergänzen? Der Sinn jeder künstlerischen Tätigkeit
ist die Mitteilung eines Gefühlsinhaltes unsrer
Seele. Wie wir mit der Sprache unsre Gedanken
auf andere übertragen oder übertragen wollen, so
treibt uns ein inneres Mitteilungsgelüste, auch unsre
Gefühle mit Gebärden, Mienenspielen usw. an-
deren mitzuteilen. Vor allem spielt bei der künst-
1 erischen Produktion die Mitteilsamkeit eine wich-
tige Rolle. Beim Anblick z. B. einer schönen
Landschaft, drängt es den Künstler, die ihn be-
herrschende Stimmung so festzuhalten, dass auch
andere seine Gefühle nachfühlen können. Der
Gefühlsinhalt ist der wesentliche Teil jeden Kunst-
werkes. Der Baukünstler verwendet hierzu
seine Baumittel. Er will beim Bauen nicht nur
den nackten Zweck erfüllen, sondern den Zweck
 
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