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Moderne Bauformen: Monatshefte für Architektur und Raumkunst — 5.1906

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Nr. 1
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Lux, Joseph August: Die Missstände der heutigen Grossstadtanlagen, [1]
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DIE MISSSTÄNDE DER HEUTIGEN GROSSSTADTANLAGEN

VON JOSEPH AUG. LUX, WIEN-DÖBLING

In den letzten fünfzig Jahren haben unsere Städte
eine Umwandlung erfahren, wie früher nie-
mals im Laufe von Jahrhunderten. Herrlich zu-
sammengestimmte alte Stadtbilder mussten schwin-
den, um Neuschöpfungen Platz zu machen, wert-
volle Baudenkmäler, behagliche Plätze und traute
Gassen wurden unbedenklich den Anforderungen
der neuen Zeit geopfert. Was geschehen ist, ist
immer im Namen des Fortschrittes geschehen. Der
Fortschritt verlangte breite Strassen, bequem für
den Verkehr und für den Luft- und Lichtzutritt,
gesundes und billiges Wohnen für die in unge-
heurer Zunahme begriffene Stadtbevölkerung, alle
möglichen technischen Vorkehrungen, die das Leben
erleichtern, und endlich Schönheit, die das Leben
mit Freude erfüllen soll. V

V Dieser Fortschritt war mit den alten Stadtteilen,
so wie er sie antraf, nicht zufrieden. Die Gassen
waren ihm teils zu eng, teils zu krumm, die
Plätze zu klein und allzu geschlossen, zu gemächer-
artig, die Wohnhäuser zu niedrig und der ganze
Stadtbereich zu beschränkt, um die zuströmende
Menschenmenge zu beherbergen. Dieser Fortschritt
mit seinen gleissenden Gaben stand an der Wiege
unserer grossstädtischen Bauordnungen, die in den
letzten fünfzig Jahren die neue Ordnung der Dinge
geschaffen haben. Die alten Strassen wurden ein-
gerissen und erweitert, die Geschlossenheit der
Plätze wurde aufgetan, neue Vorstädte der alten
Innenstadt angehängt und kein Denkmal, keine
Uberlieferung geschont. Niemand erwartete zu-
nächst eine Schonung von Kunst- und Gefühls-
werten, weil es eine ganz lächerliche Sache wäre,
einen Pardon zu verlangen, wenn es irgend jeman-
des Geldbeutel berührt und jenen Fortschritt hemmt,
der vorgibt, so viel Gutes und Besseres an Stelle
des Alten zu setzen. V

V Man kann heute die Grossstädte im Sinne der
bestehenden Bauordnungen als fertig ausgebaut
betrachten, wenn man absieht von einigen Resten

alter Schönheit, die von der Demolierungswut wie
durch ein unbegreifliches Wunder verschont blie-
ben. Nun es einmal so weit gekommen, ist die
allgemeine Stimmung geneigt, eine Art Bilanz zu
führen, und bedächtig abzuwiegen, ob die Früchte,
die der harte Boden der Wirklichkeit getragen,
auch annähernd den Verheissungen entsprechen,
die am Anfang jener behördlich bevormundeten
Bauperiode standen, die man in der Theorie als
gegenwärtig abgeschlossen betrachten kann. Unsere
neu ausgebauten Städte sind so ziemlich in allen
Punkten das schnurgerade Gegenteil von dem ge-
worden, was die Städte von einst waren. Alle neuen
oder erneuten Strassen sind so angelegt, als ob
sie auf den stärksten Verkehr warten würden, auch
in den äussersten Vorstädten, wo das grossstädtische
Getriebe fast zu ländlicher Stille abflaut. Schnur-
gerade verlaufen die Strassenzüge, von Luft und
Licht überflutet, die hohen Häuserzeilen sind stuck-
überladen und ornamentiert, wie einstens nur die
Paläste, und es scheint, als ob es ein herrliches
Dasein wäre in einer solchen Stadt. Beim näheren
Zusehen aber entpuppt sich die ganze Grosszügig-
keit als Lüge und Maskerade. Ein einziger Blick
in die Hofräume genügt, um das Elend der gross-
städtischen Wohnungsverhältnisse, das sich hinter
dieser Scheinarchitektur verbirgt, zu offenbaren.
Wo irgend ein neuer unvollendeter Baublock mit
einem bescheideneren und solideren Nachbar aus
früherer Zeit zusammenstösst, wird das Elend der
unzähligen Hofwohnungen, das mit dem System
der Mietskasernen unsere Städte betroffen hat, um
so augenfälliger. Die Mietskaserne sowie das ganze
Wohnungselend ist das Ergebnis unserer baubehörd-
lich vorbestimmten Grossstadtanlagen und eines
jener Rübezahlgeschenke, die als Gold in Kauf
genommen und über Nacht als armseliger Trug er-
kannt wurden. Die alte Architektur setzte ihr
bestes Können in die Ausbildung der Höfe, die
grossen Sälen glichen; heute noch, wo man sie findet
 
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