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Münchner kunsttechnische Blätter — 9.1912/​1913

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Nr. 4
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Wedepohl, Theodor: Die Perspektive in der Bildnismalerei, [4]
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Schmidt, Fritz-Philipp: Ein Meisterwerk der Anatomie, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.36589#0019
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Nr. 4-

Münchner kunsttechnische Blätter.

15

Ausführungen eiserne Gesetze sind, vor allen Dingen
beruhen sie nicht auf Konvention. Ich habe vielmehr
versuchen wollen, physische Tatsachen zu analysieren.
Jeder Maler wird seine Experimente aus der Empfin-
dung heraus machen, was ihm in der Praxis um so
leichter sein wird, je mehr er sich mit der Theorie
vertraut gemacht hat, denn „das Gesetz macht uns
frei". Nicht auf das Sein, sondern auf den Schein
kommt es an in der Malerei, deren Aufgabe es ist,
zu täuschen: durch eine Ebene Form und Raum her-
vorzutäuschen, — und alles hier Gesagte beruht ja
letzten Endes auf bewusster Anwendung der optischen
Täuschung.
Zustimmende und besonders widersprechende Mei-
nungsäusserungen sind dem Verfasser willkommen.
(Berlin W 30, Motzstrasse 58.)
Ein Meisterwerk der Anatomie.
Von Fritz-Philipp Schmidt, Dresden.
(Schluss.)
Aber alle die genannten Vorzüge, welche freilich
das für ein anatomisches Werk unbedingt Notwendige
überschreiten, würden dem vorliegenden noch nicht
die Bedeutung eines völlig massgebenden Nach-
schlagewerkes für den Künstler verleihen.
Bei den Zeichnungen geschieht dies erst durch
das Zusammenfassen der Form als Ganzes im
Gegensatz zum blossen Nebeneinander von Einzelheiten.
Stets sieht man das betreffende Tier — auch als
Muskel- oder Skeletttier — zuerst als solches, dann
erst Kopf, Schultergürtel usw.; oder man sieht bei den
reichlich beigegebenen Einzeldarstellungen zuerst das
ormze Glied und das ganze Gelenk, nicht etwa ein
Konglomerat von Knochen, Sehnen, Bändern, das in
den annähernd richtigen äusseren Umriss hineinge-
zeichnet ist. Ein Betspie]: Dittrich gibt stets als
Tafel I ein vortrefflich durchgeführtes Tier, an wel-
chem das verstehende Auge auch die feineren ana-
tomischen Grundlagen in ganz natürlicher Weise erst
allmählich wahrnimmt, während die bisher üblichen
Darstellungen die belehrende Absicht zu aufdringlich
betonen oder von den feineren Grundlagen zu wenig
enthalten. Diese Geschlossenheit bei feinster Durch-
bildung lebt in dem ganzen Werke, so dass man
glaubt, dies müsse im Verein mit der Menge der An-
sichten (seitlich, von vorn und hinten, oben und unten)
und mit den zahlreichen Querschnitten ohne weiteres
ein Modellieren danach ermöglichen.
In kurzem: an Stelle mehr oder minder abstra-
hierter anatomischer Formen geben die Dittrichschen
Zeichnungen gewissermassen anatomisch durch-
leuchtete Natur.
Die Summe dieser Vorzüge bewahrt davor, erst
falsche Formen- oder Tatsachenvorstellungen in sich
aufzunehmen, welche später die eigene, dadurch zu-
dem erschwerte Beobachtung der Natur Lügen straft.
Ist das schon richtig bei der Darstellung in der Fläche,
so muss dies Werk, welches schon durch sein Dasein
allein massstaberhöhend wirkt, dem Bildhauer uner-
setzlichsein; doppelt, wenn sich's um überlebensgrosse
Ausmessungen handelt. Solche einwandfreie Grund-
lagen sind für die stilistische Behandlung wohl noch
unerlässlicher als für die naturalistische, die sich allen-
falls einmal mit blosser Nachahmung von Naturobjekten
begnügen könnte, während jene im Sinne der Natur
ausgestaltend und vereinfachend schafft.
Zum Schlüsse der Würdigung des bildlichen Teiles
sei es anerkannt, dass der Raum der Tafeln aufs mög-
lichste ausgenützt ist, ohne jedoch die Uebersicht-
lichkeit zu stören; ganz im Gegensatz zu vielen an-

deren Werken, die auf grossen „Tafeln" wenig ser-
vieren — und dazu leider oft Papiermache, anstatt
Fleisch und Bein. Die Tafeln sind so handlich, dass
man sie im Skizzenbuch leicht mit auf die Pferdeweide
oder in den „Zoologischen" nehmen kann; ihre Zweck-
mässigkeit wäre dadurch noch zu steigern, dass der
Eigentümer einen Teil der in den „Legenden" gege-
benen Unterschriften darauf einträgt.
Nach so reicher Anerkennung schaue ich mich
vergebens nach berechtigtem Tadel um. Wollte man
etwa den Ausdruck der beiden Raubtierköpfe mit ge-
öffnetem Rachen als nicht animalisch genug bezeichnen,
so überschritte eine solche Anforderung wohl die
Grenzen, die einem anatomischen Werke gesteckt sind.
So bliebe als einzige „Ausstellung" die Aeusserung
eines persönlichen Wunsches: die trefflichen Tafeln
des Pferdes würden mich noch mehr erfreuen, wenn
die äusseren Umrisse der Gliedmassen den Sinn des
Wuchses ein wenig mehr betonten. Die sonst gar
nicht genug zu schätzende Objektivität würde dadurch
nicht leiden.
Der Wunsch nach Ausdehnung des Werkes auf
weitere Tierarten und nach Bereicherung durch Mo-
mentphotographien, dessen Berücksichtigung bisher
an den enormen Herstellungskosten des Vorhandenen
scheiterte, würde bei erhöhtem Absätze gewiss ver-
wirklicht werden können.
Der textliche Teil des Werkes bildet, wie man
es von den bekannten Verfassern nicht anders erwarten
konnte, ein wohlgelungenes Seitenstück zu dem bild-
lichen.
Selten wohl haben gegenseitig sich verstehende
und ergänzende Mitarbeiter sich so glücklich zusammen-
gefunden, wie es hier durch besondere Umstände ge-
schah — Männer, die nicht nur ihren Stoff meisterlich
beherrschen, sondern ihn auch dem besonderen Zweck
entsprechend darstellen können.
So ist denn auch die Anordnung des Textlichen aus-
nehmend übersichtlich, die Ausdrucksweise sachgemäss
knapp und praktisch. Er zerfällt in einen mit vielen
Textbildern versehenen Textband einerseits und in
„Legenden" andererseits, das sind die mit den Tafeln
gleichgrossen, sie erklärenden Angaben, in denen zur
schnellen Orientierung bei allen Tierarten wie bei allen
Ansichten derselbe Gliedteil dieselbe Zahlenbezeich-
nung trägt.
So kommt jeder auf seine Rechnung: der lediglich
auf formale Aufklärung erpichte Tierdarsteller wie der
Künstler und der Tierfreund, die beide eine Menge
weiterer interessanter Beobachtungen suchen oder sie
erklärt haben wollen. Der Text, der vergleichend die
Anatomie des Menschen in Betracht zieht, äussert sich
selbstverständlich auch über Physiologie, Bewegungen
— welche mehrere Reihen Zeichnungen nach Moment-
aufnahmen des Pferdes veranschaulichen — und über
Massangaben. Letztere bedeuten eine besonders ver-
dienstvolle Bereicherung, die in erster Linie dem Bild-
hauer von wesentlichem Werte ist. Hätte der Text-
band nicht lange vor Fertigstellung alleren Lieferungen
erschienenen) bildlichen Abteilungen verfasst werden
müssen, so wäre das noch günstiger gewesen.
Mit einem Wort: ich halte dies Werk für das
klassische Werk der künstlerischen Tierana-
tomie schlechthin; klassisch auch in dem Sinne,
dass jedes etwaige künftige Werk gleichen Inhalts da-
zu Stellung und darauf Bezug wird nehmen müssen.
Frühere Werke der drei Verfasser werden zum Teil
bereits viel in der Veterinärliteratur angeführt, wie
auch die eingangs erwähnten Thompson und Schäfer
sich auf sie berufen.
Das Schicksal des Hervorragenden hinsichtlich
der Nachahmung hat sich auch an diesem Werke er-
füllt — eine unfreiwillige Anerkennung. (Die mehr Pa-
 
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