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Die neue Stadt: internationale Monatsschrift für architektonische Planung und städtische Kultur — 7.1933-1934

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Giedion, Sigfried: Wohnbedarf Zürich
DOI Artikel:
Schmitt, Hans: Kirchenbau und moderne Architektur
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https://doi.org/10.11588/diglit.17522#0029
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Es nützt nichts, seine Leute auf die Leipziger
oder Lyoner Messe zu schicken, um rasch pro-
vinziell nachzuahmen, was andernorts Mode ge-
wesen ist. Gewiß wollen wir wissen, was die
Besten in Europa denken und projektieren, aber
auch in diesem Fall wollen wir nicht das Fertig-
produkt, sondern das geistige Rohmaterial. Die-
ses werden wir schon auszubilden wissen, wie es
für unsere Verhältnisse nötig ist.

Ganz klar werden unsere Bedingungen erst,
wenn man in Ländern reist, deren industrielle
Entwicklung zurückgeblieben ist, und wo durch
ein Fehlen der Spezialisten und einer verzweigten
Hilfsindustrie jedem neuen Versuch außerordent-
liche Schwierigkeiten entgegenstehen.

In der Schweiz (z. B. rund um den Zürichsee)
gibt es überall kleine Betriebe, Spezialisten, die
technische Details in oft neuen Materialien für
eine hochentwickelte Maschinenindustrie schaffen:
sie können auch für das Wohnproblem alles er-
füllen, was an den meisten Orten unerfüllbar
bleiben muß. Diese Möglichkeiten sind heute
meistens unerkannt und unausgenützt. Auf Grund
einer klaren Einstellung müßten sie entdeckt und
fruchtbar gemacht werden.

Wenn wir auch in der Schweiz nicht zu so
großen Serien kommen können wie im Ausland,
so gestattel doch gerade die verhältnismäßige
Kleinheit der Betriebe ein rasches Vorgehen.

*

Und wie steht das Schweizer Publikum zu Ein-
richtungsgegenständen, die in jeder Richtung die
heutigen Bedürfnisse befriedigen möchten und
von formalen Spielereien absehen?

In Paris z. B. ist der Abnehmerkreis zum
großen Teil auf eine snobistische Schicht be-
schränkt. Die Preise sind entsprechend.

In der Schweiz wäre diese Schicht so außer-
ordentlich dünn, daß mit einem sinngemäßen
Absatz überhaupt nicht gerechnet werden könnte.
Es hat sich gezeigt, daß bei uns, ganz abgesehen
von jeder Ästhetik, das Publikum die Möbel und
Stoffe real auf die Leistungsfähigkeit prüft; denn
es ist gewohnt, an die Dinge, die es kauft, vor
allem die Forderung der Qualität zu stellen. Da-
durch entsteht eine gewisse Unvoreingenommen-
heit: mehr braucht das heutige Bauen und das
heutige Wohnen nicht, um sich sinngemäß weiter
entwickeln zu können.

Siegfried Giedion

KIRCHENBAU UND MODERNE ARCHITEKTUR

Wir leben in einer Epoche, in der (parallel ge-
sellschaftlichen Vorgängen) das individualistische
Kunstschaffen mit sich selbst in Widerspruch ge-
raten ist und früher oder später sich aufzuheben
gezwungen werden wird. Der Beginn der gegen-
standslosen Malerei, die Besinnung in der Archi-
tektur — Anfänge, die schon ein Menschenalter
zurückliegen — sind der Aufbruch einer neuen
Epoche universalistisch-kollektiven Geistes, einer
Bewegung, die letztlich die Tendenz hat, sich uni-
versal, gläubig und einheitlich unter gemeinsame
Symbole und neue gesellschaftliche Bindungen
mit neuen Inhalten zu sammeln. Dies ist das all-
gemeinste Schema des Bewegungsgesetzes un-
serer Zeit. Mehrere Gemeinschaftsinhalte — reli-
giöser und politischer Natur — ringen nun inter-
national um die Vorherrschaft: ein Zeichen, daß
wir erst im Anfang sind und alle Entscheidungs-
kämpfe noch bevorstehen.

Das, was den Katholizismus nun auszeichnet,
ist die Betonung der (hier auf das Gött-
liche hingeordneten) Gemeinschaft als
Gestaltungsinhalt und Basis. Es

stellen sich aber angesichts der konkret vorge-
wiesenen religiösen Kunst Bedenken ein, ob
religiöse Kunst überhaupt inhaltlich und formal zu
einer geschlossenen, allgemeingültigen Form ge-
langen kann.

Der Katholizismus ist nur eine Teilgemein-
schaft, neben vielen anderen, vielleicht größeren
Teilgemeinschaften politischer und ökonomischer
Art. Er ist keine Total gemeinschaft. Es kann
zeitlich gewiß verschiedene Arten «Kunst» geben,
aber nicht im gleichen gesellschaftlich-ökono-
mischen Raum. Es ist ein Unding, unter Menschen
gleichen Schicksals eine abgegrenzte «religiöse
Kunst» zu machen, wie man keine «nationale
Kunst» machen kann.

Die große Bewegung, die wir gewöhnt sind,
als moderne Kunst und Architektur zu bezeichnen,
trägt ausgesprochen universalistisches
Gepräge, ist aus allerbreitesten, wenn man will
menschlichen, Elementen einer wirklichen Total-
Gemeinschaft heraus entstanden. Das sind aber
gleichzeitig auch die Quellen, von denen die
Kunstgewerbeschulen und Paramentenfabriken

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