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Der Simpl: Kunst, Karikatur, Kritik: Der Simpl: Kunst, Karikatur, Kritik — 1.1946

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https://doi.org/10.11588/diglit.7376#0028
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ZUM 1. MAI 1946

M. Radier

ARBEIT
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Bericht aus München: Der erste „Pg" arbeitet.

GOLDENE FREIHEIT

Plötzlich sah mich der junge Mann an und sagte: „Kön-
nen Sie schlafen?"

Mein Blick ging über die, die hier saßen im Bahnhofs-
bunker zu X., zusammengeschwemmt aus allen Ecken
und Enden des Reiches, Namenlose, schlafend, schnar-
chend, zusammengepfercht Knie gegen Knie, manche
allein auch, den Kopf vornüber, Besitzlose meist, das
bißchen Habe, eine Schachtel, einen Rucksack, einen Kof-
fer, zwischen den Füßen.

„Können Sie hier schlafen?" frug mich der in eine
Wolldecke Gehüllte, und ohne eine Äußerung von" mir
abzuwarten, begann er, mit dem Blick auf die im Dunst
schwelende elektrische Birne: „Vor einem Jahr, fast ge-
nau auf den Tag, saß ich auch hier, den Kopf schier auf
den Knien. Urlaub. Zehn Tage bereits auf Fahrt. Eine
mitteilsame Nachbarin flüsterte mir: vor acht Tagen
habe man die Stadt Y. fertig gemacht. Das machte mich
wieder munter. Y. war meine Heimatstadt.
Bei meinem letzten Urlaub hatte ich meine Mutter ins
südwestliche Waldgebiet gebracht, weil ich der Sage von
der Unauffindbarkeit der Stadt nie traute. Jetzt war
diese Sage zerstört und mit ihr die Stadt. Bitter. Es war
auch nicht einzusehn, warum sie, in der jedes Haus fast
zur Rüstung beitrug, eines Tags nicht zugedeckt werden
sollte.

Stand das Haus meiner Mutter noch? Ich unterbrach
meine Fahrt am Knotenpunkt S. und machte mich auf
den Weg nach Y., das man sonst mit dem Personenzug
in einer Viertelstunde erreicht.

Es war noch finster. Nur im Osten lüftete sich der Him-
mel etwas. Nach einer Weile umstrich mich der Geruch
verkohlten Holzes, stärker und stärker mit jedem Schritt,
der Gestank einer verendeten Stadt, und schließlich
stand sie vor mir im Nebel, im trüb wachsenden Licht,
ein zusammengehauenes Wesen mit ärmlichen Stümpfen.
— Über Steinblöcke, Geröll, geborstene Bäume kroch ich
hinweg, über verbeulte eiserne Zäune, zerklüfteten
Zement und ein Gewirr von Leitungsdrähten, und plötz-
lich war mir alles so fremd; ich ließ mich auf einem
halbnackten, steinernen Weib nieder, das die Last eines
Erkers los hatte, und grübelte über die einzuschlagende
Richtung nach. — Schön war meine Stadt nicht gewesen,
doch was fragen Sie als Kind nach dem Gesicht Ihrer
Amme?

Ich arbeitete mich weiter. Das war einst die Friedrich-
straße, die Straße mir dem Granitpflaster, über das der

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Fernverkehr rollte. Schulkinder mit ihren Ranzen und
Vesperkörbchen hatten sie ehemals überquert, kreischend,
Hand in Hand. Aus den Fabriken hatte es geschwirrt
von Motoren, hatte der Stahl geklungen mit einem
wachen Laut. Ach, was war das für eine Straße gewesen,
über welche die Kontormädchen liefen in ihren weißen
Kitteln, die Fabriklehrlinge in ihren steingrauen Arbeits- "
hemden, wo der Kohlenwagen fuhr mit seinem trägen
Geklingel und dem Sandwagen der Fuhrmann voran-
schritt mit einem langgezogenen „Saaand! Saaand!" Und
jetzt stolperte ich allein durch die Trümmer mit Stiefeln,
rot vom Backstein und zermahlenen Ziegeln, rot wie von
verschwiegenem Blut.

Endlich langte ich an der Straßenkreuzung an, wo einst
das Haus meiner Mutter stand. Die Nachbarn ringsum
glichen zu Boden geschmetterten Riesen, das Haus meiner
Mutter, ein Landhaus der sechziger Jahre, das im Laufe
der Jahrzehnte von den Ungetümen überholt worden
war, ähnelte einem unschuldigen erschlagenen Mädchen.
Von dem Eckhäuschen ragte nur noch die Ostwand,
schmächtig, hilf los, drei Fenster oben, drei unten, in einem
kleinen Garten mit einigen verstümmelten Bäumen.
Schier abwesend stocherte ich mit der Stiefelspitze im
Schutt herum, legte etwas Weißes bloß, etwas Hand-
tellergroßes, erkannte in ihm ein Stück der Küchentäfe-
lung und steckte es zu mir wie etwas Kostbares. Wäh-
renddem, ich traute meinen Ohren kaum, wurde da oben
irgendwo ein kurzer süßer Ton laut, ein brüchiger Ton,
der sogleich wieder verstummte. Ich erblickte über mir
einen weißlichen, ruhlos kreiselnden Nebel, sonst nichts,
und hinter der Feuermauer verschwand ein Mann, eine
Hacke über der Schulter, und ihm auf den Fersen eine
Frau in Hosen mit einer Schaufel, und bald darauf er-
scholl ein dumpfer Schlag und wieder einer, ein Rum-
meln und1 Poltern, und wenig später ein Schürfen, ein
kaltes, schartiges Schürfen. Mich fröstelte. Was hatte ich
hier noch zu suchen unter diesen steinernen Leichen?
Plötzlich wieder dieser süße, bezaubernde Ton, irgend-
wo über mir, ein bißchen länger als vordem, und, wie aus
Widerspruch, hinter der Mauer der zupackende Schlag
und das nackte Schürfen, hernach aber von neuem der
süße, bestrickende Laut, stärker noch als vordem und
beharrlicher, und jetzt entdeckte ich an der Feuermauer,
in Höhe des ersten Stockes, einen Vogelbauer und in
ihm einen Harzer Roller, sein Köpfchen trillernd er-
hoben, dem sanft erblauenden Morgen entgegen, ein
kleines Etwas, rein und blank wie der erste, das Gewölb
nunmehr durchglänzende Sonnenstrahl.

Mich ergötzte der kleine Vogel, der wohl, bald nachdem
ich meine Mutter weggebracht hatte, samt einer ausge-
bombten Familie hier eingezogen war. Mit einem leisen,
lockenden Ton rief ich ihn „Hans", ein Name, den Har-
zer Roller wie so manch anderes hinnehmen. Hans sah
mich erst mit seinem einen Auge an, hierauf mit dem
andern, schlüpfte alsdann zur offenen Tür heraus und
flatterte auf mich zu, dem noch immer vor der- nieder-
gebrochenen Südwand Stehenden, blieb aber dort, wo
sich die Wand einst erhoben hatte, mit einem Mal in
der Luft hängen, wirbelte dort auf und nieder wie vor
einem Hindernis und schwirrte schließlich wieder nach
seinem Käfig zurück.

Die Sache zu ergründen, kletterte ich in die Trümmer
hinein. Aufgescheucht wich mir der Kleine aus, flitzte
er der im Schutt liegenden Nordwand zu, und wieder,
als stände sie noch, hing er wie aufgespießt vor ihr und
zog sich sodann zurück, und als ich ihn nun über das
unsichtbare Hindernis zu treiben suchte, glitt er der noch
ragenden Ostwand zu und durch eines ihrer Fenster ins
Freie hinaus. Weniges später huschte er wieder herein,
schoß einem wohl zwei Meter unter seinem Bauer ein-
gerammten Spalt zu, pickte dort an einem Häuflein
Körner herum und ließ mich dabei nicht aus dem Auge.
Plötzlich stand die Frau von nebenan da, auf ihre Schau-
fel gelehnt, und redete dem kleinen Vogel zu, und dann
erklärte sie mir, gleichsam zur Entschuldigung, jemand
müsse sich eben um ihn kümmern, nachdem nun seine
-Herrschaft — sie machte eine halbe Gebärde den Trüm-
mern zu — da unten geblieben sei. Sie ging wieder an
ihre Arbeit, und das kleine Etwas, dieser aufgespulte
Sonnenstrahl überflammte von neuem das Pochen der
Hacke, das Knirschen der Schaufel."
Und mit einem reckte der junge Mann seinen Kopf aus
der wollenen Decke zu mir herüber und sagte: „Können
Sie das begreifen? Nun hatte der kleine Vogel seine Frei-
heit und dennoch schreckte er vor nicht mehr vorhan-
denen Mauern zurück. Er hatte wohl auch einmal in
seinen jungen Tagen herausbekommen, daß er zum
offenen Fenster .hinausflitzen könne. Jetzt bot sich ihm
gleich bei einem halben Dutzend Fenster die seltene Ge-
legenheit, und dennoch kehrte er rasch wieder zurück.
Freilich, wenn man's bedenkt", schloß der junge Mann
mit einem schiefen Lächeln: „Was hätte er auch viel mit
seiner Freiheit anfangen können, der sie vom Ei an nie
gekostet hatte? Für den sie eine bange Ungewißheit
blieb, in der er sehr wahrscheinlich bald umkommen
würde, ein Opfer des Hungers, der Kälte, der Katze."

Fritz Knöller
Bildbeschreibung

Werk/Gegenstand/Objekt

Titel

Titel/Objekt
"Zum 1. Mai 1946"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Der Simpl: Kunst - Karikatur - Kritik
Sachbegriff/Objekttyp
Grafik

Inschrift/Wasserzeichen

Aufbewahrung/Standort

Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Universitätsbibliothek Heidelberg
Inv. Nr./Signatur
G 5442-11-5 Folio RES

Objektbeschreibung

Objektbeschreibung
Bildunterschrift: "Bericht aus München: Der erste „Pg" arbeitet."

Maß-/Formatangaben

Auflage/Druckzustand

Werktitel/Werkverzeichnis

Herstellung/Entstehung

Künstler/Urheber/Hersteller (GND)
Radler, Max
Entstehungsort (GND)
München

Auftrag

Publikation

Fund/Ausgrabung

Provenienz

Restaurierung

Sammlung Eingang

Ausstellung

Bearbeitung/Umgestaltung

Thema/Bildinhalt

Thema/Bildinhalt (GND)
Karikatur
Satirische Zeitschrift

Literaturangabe

Rechte am Objekt

Aufnahmen/Reproduktionen

Künstler/Urheber (GND)
Universitätsbibliothek Heidelberg
Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
In Copyright (InC) / Urheberrechtsschutz
Creditline
Der Simpl, 1.1946, Nr. 3, S. 28.

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