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H. Schneekloth: DAS PRINZIP

Georg stand auf dem letzten Treppenabsatz vor dem Portal, bereits im
Freien. Mit der linken Hand stützte er sich schwer auf den Stock. Der
Zigarettenstummel in seiner Rechten zitterte... zitterte stark — sehr
•tark...

*

... Als er morgens hingegangen war, hatte er schon ein unbehagliches
Gefühl gehabt; — das heißt: eigentlich schon abends zuvor, beim Ein-
»chlafen, nachdem er noch einmal mit Hilde darüber gesprochen hatte
und feststand, daß er hingehen mußte. Aber er versuchte, dem keine
Bedeutung beizumessen, obwohl er schon oft ein unbestimmtes Furcht-
gefühl verspürt hatte, wenn er nur daran dachte. Anfangs war das nicht
so gewesen. Als er das erstemal nach der Rückkehr aus der Gefangen-
schaft hingegangen war, hatte er es ganz ungezwungen getan. Aber
seitdem nicht mehr.

„Es wird schon klappen", lächelte er Hilde zu, als er später wieder
einmal hinmußte. Aber dann unterblieb auch das.

„Vielleicht gelingt es", versuchte ihm Hilde manchmal Mut zu machen,
aber ihre Worte klangen nicht sehr überzeugend; mehr wie eine zag-
hafte Frage.

Und dann ging er einfach nicht mehr hin. Es war am besten so.
Nun war Georg einen ganzen langen Sommer nicht dort gewesen, ob-
wohl es einige Male notwendig gewesen wäre. Claude bestärkte ihn in
dieser Haltung. Er war der gleichen Meinung wie Georg. „Das Hinlaufen
ist nur Zeitverschwendung" waren seine stehenden Worte, wenn die
Rede darauf kam.

Aber nun mußte Georg doch. Es war nichts zu machen. Der Herbst hatte
die ersten kalten Nächte gebracht. Auf den Plätzen und Straßen, an
denen noch vereinzelte Bäume standen, trieb ein kühler Wind die welken'
Blätter vor sich her.
Also ging er.

Es war ein großes Gebäude hinter einem großen freien Platz. Rechts
stand ein Fahrradständer. Es fröstelte ihn, als er darauf zu ging. Unter
den kahlen Platanen, die den Platz umsäumten, spielten schmutzige
Kinder mit dem trockenen Laub. Sie schichteten es zu großen Haufen;
dann trampelten sie es lachend und schreiend wieder auseinander.
In der Vorhalle war es dunkel und feucht. Georgs Frösteln verstärkte
sich. Auf dem hohen Wegweiser, der eine ganze Wandbreite bedeckte,
las er: „Zimmer 318 III."

Er stieg ganz langsam die Treppen hinauf. Vor vielen Türen standen
lange Schlangen und vor einigen waren es ganze Haufen. Über den
Köpfen schwebte ein dumpfes Murmeln und Summen. Auf den Gängen
liefen ständig Menschen hin und her. Die keine Bleistifte hinter den
Ohren oder Aktendeckel unter den Armen hielten, sahen armselig aus.
Sie trugen ausgefranste Hosen, geflickte Jacken und hatten abgetretene
Schuhhacken. Mütter zerrten mit einer Hand Kinder hinter sich her, mit
der anderen rafften sie alte Mäntel über prall abstehenden Leibern zu-
sammen. Alle machten einen verhärmten und gehetzten Eindruck; und
alle waren irgendwie gleich — im Ausdruck ihrer Augen. „Das Haus
der Armen" dachte Georg und stieg weiter die Treppen hinauf.
Vor 318 III stand niemand; es war auch im Zimmer ziemlich leer. „Das
ist gut", dachte er; es bestand wenigstens die Möglichkeit, etwas zu
sagen, wenn niemand nachdrängte und das idiotische „der Nächste" die
Sache nicht von vorneweg zum maschinellen Prozeß stempelte.
Hinter dem Tisch saß eine Frau. Sie schrieb in irgendwelchen Kartei-
karten und ließ sich durch seine Anwesenheit nicht stören. Immer wenn
sie eine Karte ausgefüllt hatte, legte sie diese nach links auf einen Stoß.
Es ging eine ganze Weile. Georg schaute sich um. Am Nebentisch ver-
handelte schon jemand. Im Hintergrund klapperten zwei Schreibmaschi-
nen. Am Fenster standen drei Herren und aßen Brote. Also blieb er
stehen.

„Sie sieht aus wie eine Brillenschlange", drängte sich ihm unwillkürlich
der Vergleich auf.
Endlich sah sie auf.
„Bitte —?"

Es klang spitz. Die Karten hatte sie nicht weggelegt; und den Füllfeder-
halter hielt sie weiter schreibbereit in der Hand.
„Ich möchte bitte eine Brennstoffkarte."

Er sagte das so ruhig wie möglich, etwa so, wie man einen Mitmenschen

nach der Zeit fragt.

„Eine Brennstoff karte — —?"

Es klang, als spräche sie ein Fremdwort aus; und dann wiederholte sie

kurz und bestimmt:

„Eine Brennstoffkarte, wieso?"

Georg hatte inzwischen seinen Krückstock an den Tisch gehängt und
seine Brieftasche hervorgeholt. In einem ebenso schnellen Tempo legte
er los:

„Ja, eine Brennstoff karte; ich besitze nämlich keine; das heißt: wir
besitzen keine. Wir haben im Sommer dieses Jahres geheiratet; bitte
hier: die Heiratsurkunde; und hier: der polizeiliche Meldeschein; und
hier: meine Kennkarte. Jetzt im Winter..."

„Wo haben Sie Ihre alten Brennstoffkarten?" schnitt sie ihm kurz und
scharf das Wort ab.

Er kannte dieses Inswortfallen gut und verband zahllose Erinnerungen
damit...: „Schütze Müller, reden Sie nicht! Halten Sie das Maul und
geben Sie Antwort, wenn Sie gefragt werden..." — Georg fühlte, daß
ihn die Brillenschlange aufregen würde. Trotzdem zwang er sich zur
Ruhe.

„Wir besitzen keine alten Karten. Meine Frau war zuvor bei den Eltern
und mir hat man im Kriegsgefangenenlager keine mitgegeben."
Nun war er doch in den Brillenschlangentonfall gekommen.
„Haben Sie eine Wohnung —?"

Diese Frage kam langsam und ein wenig überlegen. Sie hatte sich bereits
halb abgewandt und schrieb in ihren Karteiblättern. Georg wartete
darauf, daß sie aufhören und wieder aufblicken würde. Aber die Feder
glitt weiter über das Papier.
„Nein, wir haben nur ein Zim..." —

„Dann können Sie keine Brennstoffkarte bekommen!" schleuderte sie
ihm entgegen, bevor er ausgesprochen hatte; dabei sandte sie einen
hämisch boshaften Blick über ihre Brillengläser.

Triumphierend wandte sie sich von ihm ab. Die Feder glitt rasch über
das Papier. Er war erledigt.
In Georg kochte es.

„Aber hören Sie! Wollen Sie mich nicht weiter anhören —?"

Die am Fenster zuckten zusammen, legten die Stullen weg und kamen

langsam näher.

„Ich habe Ihnen doch gesagt, daß sie keine Karte bekommen können,
wenn Sie keine Wohnung haben!" Ihre Stimme war hochmütig und
arrogant geworden.

„Sie weigern sich also, mich anzuhören, warum ich die Karte trotzdem
dringend brauche?"

„Ja! Wir haben hier unsere Bestimmungen!"

„Wer ist Ihr Chef und wo ist sein Zimmer?" Nun war Georgs Stimme
kurz und scharf geworden.

„Der Herr Dienststellenleiter befindet sich im Zimmer nebenan..." klang
es ihm hoheitsvoll und herablassend entgegen.

Jetzt war Georg an der Reihe höhnisch zu werden und ein Fremdwort
auszukauen

„Der Herr Dienststellen... wie bitte —?" —

„Dienststellenleiter!"

„Dienststellenleiter."

Er packte seine Papiere zusammen und ging.

Die nächste Tür war geschlossen. Aber an der übernächsten... tatsäch-
lich: ein großes Schild —: .Hermann Sowieso, Dienststellenleiter.'
Er klopfte und trat sofort ein. Drinnen stand ein großer, dicker Mann
am Telephon.

„Danke schön." Dann legte er auf. Mißbilligend blickte er Georg entgegen.
„Nun, Sie sind schon informiert worden", sagte der.
„Ja", gab der andere verblüfft zu.

„Dann kann ich mich kurz fassen: Eltern ausgebombt. Eltern meiner
Frau ebenfalls ausgebombt. Wir hausen alle in einer Notwohnung. Meine
Frau und ich haben ein Zimmer. Ich komme oft spät nachts zurück.
Dann muß ich wenigstens im Winter etwas Warmes bekommen. Dieses
Kochen geht aber nachts nicht mehr in der Küche. Dort schläft nämlich
auch einer. Ergo: ich bitte um die Brennstoff karte. Außerdem: bein-
amputiert; doppelter Grund für etwas Wärme... und sonst: Ihre Dame
nebenan hat sich geweigert, diese Gründe anzuhören; deshalb will ich
mich beschweren ..."

Der Dicke wog seinen Vollmondkopf hin und her. Fortsetzung Seite 272

Zeichnungen: J. Wisbeck

271
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Werk/Gegenstand/Objekt

Titel

Titel/Objekt
"H. Schneekloth: Das Prinzip"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Der Simpl: Kunst - Karikatur - Kritik
Sachbegriff/Objekttyp
Grafik

Inschrift/Wasserzeichen

Aufbewahrung/Standort

Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Universitätsbibliothek Heidelberg
Inv. Nr./Signatur
G 5442-11-5 Folio RES

Objektbeschreibung

Maß-/Formatangaben

Auflage/Druckzustand

Werktitel/Werkverzeichnis

Herstellung/Entstehung

Künstler/Urheber/Hersteller (GND)
Wisbeck, Jörg
Entstehungsdatum
um 1947
Entstehungsdatum (normiert)
1942 - 1952
Entstehungsort (GND)
München

Auftrag

Publikation

Fund/Ausgrabung

Provenienz

Restaurierung

Sammlung Eingang

Ausstellung

Bearbeitung/Umgestaltung

Thema/Bildinhalt

Thema/Bildinhalt (GND)
Karikatur
Satirische Zeitschrift

Literaturangabe

Rechte am Objekt

Aufnahmen/Reproduktionen

Künstler/Urheber (GND)
Universitätsbibliothek Heidelberg
Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
In Copyright (InC) / Urheberrechtsschutz
Creditline
Der Simpl, 2.1947, Nr. 22, S. 271.

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