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Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung — 28.1911

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https://doi.org/10.11588/diglit.6709#0063
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Zum Gedächtnis Paul Singers.

9115 im Jahre 1873 die kleine Berliner Mitgliedschaft der Sozial-
demokratie Eisenacher Programms Johann Iacoby, der 1872 dieser
Partei öffentlich beigetreten ivar, 511 ihrem Kandidaten für die aus-
übende Reichstags,vahl bestimmte, ward mir die Mission, bei den wohl-
habenden bürgerlichen Demokraten für nnseren Wahlfonds sammeln zu
ü'hcn. Ich mar schwerlich die geeignetste Person dazu und ließ mich
'"il de», abspeisen, was man mir freiwillig gab, allerdings nicht, ohne
>"lr je nachdem mein Teil dabei zu denken. Namentlich empörte mich
ei» wohlhabender Kaufmann Wittkowski, der mir erst eme lange Nede
und mir dann — trotz
' uwrEmpfehlungdurch Guido
Weiß. einen Taler gab. Mein
mstcr Gedanke war, ihm den
waler mit der Bemerkung zn-
rückzugeben, der ärmste säch-
lische Weber gebe in drei Jah-
ren mehr und verschone uns
obendrein mit weisen Bor-
halten. Dann aber siegte der
Gedanke, daß wir den klein-
sten Beitrag nötig brauchten,
uh nahm den Taler an und
ging meiner Wege.

Herr Wittkowski war der
vorletzte auf der Liste gewesen,
die mir der liebenswürdige
Guido Weiß ausgestellt hatte.

Den Schluß machte ein an-
derer Kaufmann, und ich über-
legte mir im Angesicht der
wenig erbauliche» Erfahrung
eine Weile, ob cs wirklich der
Mühe lohne, nun auch de»
noch aufzusuchen. Schließlich
überwog jedoch hier gleich-
falls der Gedanke an die Be-
bnrstigkeit unserer Kasse. Von
'hm geleitet, begab ich mich
nach dem Geschäft, wo ich
\VX Kaufmann finden sollte,
zeigte ihm, in meinen Erivar-
"ugon auf das niedrigste
herabgestimmt, die Weißsche
- '«ne und trug mein Anliegen
vor- Wie erstaunte ich aber,

?.von ihm im freund-
-")>teu Tone gebeten wurde,
mneu Augenblick zu verweilen,
e'"'9e Geschäftssachen

' odtgt habe, dann eingeladen . ..--

u'iu,e, ihn i„ seine nahc-
90 egeue Wohnung zu begleiten, und dort von ihm einen Betrag, der
meine sonstigen Einnahmen um- mehr als das Doppelte überstieg,
>">t dem Bemerken erhielt:

„Und vergessen Sie nicht: ich wähle Jacob,, nicht, obgleich er
«ozmldemokrat ist, sondern ich wähle ihn, weil er Sozialdemokrat ,st.

' rußen Sie Ihre Genossen, und wenn Sie mehr Geld brauchen,
kommen Sie wieder.»

Das Gespräch fand in der Lindcnstraße 4t statt, und der jene
^orre sprach, die mich aus der Tiefe meiner gesunkenen Hoffnungen

m den siebenten Himmel erhoben, so daß ich de» Rückweg zum Ber-
lrmtensmann unserer Partei mehr flog als ging, hieß Paul Singer,
■vjcl) kenne keinen Ausspruch von ihm, der de» Grundzug seines

espnL -r. ,r

Ja, er war Sozialdemokrat mit Leib und Seele. Wenn er es
auch damals nicht mit den theorelischen Begriffen war, die heule
dein Programm der Sozialdemokratie ziigrunde liege», sondern aus-
politischer und ethischer Ideologie, so war er es doch in dem rich
ligen Empfinden, daß eine konsequente Demokratie nur noch eine
sozialistische Demokratie sein könne.

Singer war, wie damals die meisten unter uns, von der bürger-
lichen Demokratie zur Sozialdemokratie gekoinnien. Er hatte, ivieJohan»
Iacoby, die Brücken, die von jener her kamen, noch nicht ganz ab

gebrochen, nicht aus Unent-

paul

geboren 16. Januar 1844,

charakterisierte, als diese aus einer Zeit datierende
ldemokr,

'brecher

lieien'T V'r 'TJ hat

' vaß sie der Ausdruck eines durchaus echten Empfindens >var.

.. ms

Erklärung, wo Sozialdemokrat sein in der Klasse, der Singer ange
hörte, Narr oder Verbrecher sein hieß. Sein Lebe», das nun abge
liegt, hat in der schönsten Weise den Beweis ge-

schlossenheit, aber weil beide
Richtungen noch soinderMin-
derheit waren, daßsiegeradezu
aufeinander angewiesen schie-
nen und an vielen Orten es
auch waren. War es doch
bis dahin noch vorgekommen,
daß in einzelnen Wahlkreisen
bürgerliche Demokraten und
Sozialdemokraten schon im
ersten Wahlgang zusammcn-
gingen, hier Sozialdemokraten
den Kandidaten der Demo-
kraten oder VÄksparteiler,
dort diese den Kandidaten
der ersteren akzeptierten. Auch
propagandistische Rücksichten
ließen es vielen als nichtzweck-
mäßig erscheinen, der bürger-
lichen Demokratie in aller
Form den Abschied zu gebe».
Man suchte auf jede Weise
zusammenzuhalten, was nicht
völlig der zu jener Zeit wirk-
lich versumpften Forlschritts-
partei verfallen oder noch ivei-
1er ins Philisterland zurück-
gekehrt war.

So hielt denn i» Berlin
um Guido Weiß, den geist-
reich en eh ein ali gen Red akteur
der 1867 von Johann Iacoby
gegründeten und 1870 dem
Kriegstaumel erlegenen „Zu-
kunft», noch ein kleines Häuf-
lein Demokraten zusammen,
von denen einige sich inner-
lich schon zur Sozialdenwkratie
rechneten, wenn sie auch die
Mitgliedskarteder Partei noch
nicht gelöst hatten, llnd einer
von diesen letzteren war Paul Singer. Er war, obivohl 1873 erst
neunundzwanzig Jahre alt, durchaus kein politischer Neuling. .Es
hatte ihn, den Sohn einer mit vielen Kindern gesegneten Knusmanns-
witwe, der im Alter von vierzehn Jahren die Schule hatte ver-
lassen müsse», nur im Kaufmannsberuf sein Brot zu erwerben, schon
früh zur Politik hingezogen. Er nahm in einem Alter, wo die
meisten jungen Kauflente in ihren Mußestunden nur Sinn für flache
Unterhaltungen hatten, an den politischen Vorgängen lebhaftes Inter-
esse, das sich nicht auf Zeitunglesen beschränkte. Wie ich an anderer
Stelle bereits erzählt habe, ist er 1862 als Achtzehnjähriger schon
der Begleiter des damals radikalen Demokraten Ludwig Löive bei
einem Gang zu Ferdinand Lassalle gewesen, den Löwe für einen
Vortrag in einem der Berliner Bezirksvereine geivinnen wollte. Wie
seltsam das Leben spielt: Lassalle machte auf Singer keinen tiefen
Eindruck, und Lassalle wiederum wird schiverlich in dem blassen,
schmächtige» jungen Handlungskommis einen der zukünftigen obersten
Führer der Partei vermutet haben, die er damals zu gründen unternahm.

Singer

gestorben 31. Januar 1911
 
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