Bestandsprofil der Bibliothek der Kartause Mainz

Für die Mainzer Kartause lässt sich genaugenommen die Existenz von drei Büchersammlungen rekonstruieren; die mit Abstand größte davon war die eigentliche Klosterbibliothek. Zumindest aus späterer Zeit wissen wir, dass sie im Obergeschoss einer Kapelle auf der Nordseite der Kirche untergebracht war. Da die Patres ausschließlich in der Einsamkeit der Zelle lasen und schrieben, war die Bibliothek eine reine Leihbibliothek. Nach dem überlieferten Entwurf einer Bibliotheksordnung aus der Zeit um 1436 (Hs I 577) erhielten höchstens fünf Mönche gleichzeitig zu ihr Zutritt und durften insgesamt bis zu fünf Büchern ausleihen.

Am Ende des 15. Jahrhunderts umfasste die Bibliothek gut 1500 Handschriften und Drucke. Die Funktion als Leihbibliothek und die stetig wachsende Größe des Bestandes erforderten, dass gegen 1436 Signaturen eingeführt wurden und zudem schon 1466/70 einer der ganz frühen Schlagwortkataloge erstellt wurde. Die Signaturen dieser Katalogisierung und der folgenden von etwa 1520 sind an vielen Bänden noch erkennbar.

Für das Kloster auf dem Michaelsberg ist daneben eine Chorbibliothek belegt, die in der Klosterkirche aufbewahrt wurde. Sie umfasste zum einen Bücher für den Gottesdienst, zum anderen auch Nachschlagewerke, Ordensstatuten und die Bücher für die Tischlesung. Bücher aus der Chorbibliothek tragen manchmal einen Eintrag, der ihre Herkunft angibt. Ansonsten sind ihr liturgische Handschriften aus der Mainzer Kartause zuzuordnen, die keine alte Bibliotheksignatur tragen.

Als Besonderheit lässt sich die kartäusische Laienbibliothek rekonstruieren, eine Sammlung von überwiegend volkssprachigen Büchern, die den Konversen und Donaten zur Verfügung stand. Sie muss außerhalb der Klausur aufgestellt gewesen sein. In manchen Fällen erkennt man ihre Bände an einer mit „X“ beginnenden Signatur. Deutschsprachige Bücher aus der Kartause dürften, wenn sie nicht in den frühen Katalogen der Klosterbibliothek erscheinen, ebenfalls der Laienbibliothek zuzuordnen sein.

Profil des Bestands

Die mittelalterlichen Kartäuser kontemplierten nicht nur in der Abgeschiedenheit ihre Zellen, sie strebten auch danach, ihre Mitmenschen mit erbaulichem Material zu versorgen. Die Statuten des Ordens bezeichnen die Schreibtätigkeit der Mönche als „Predigen mit der Hand“ und fordern die Versorgung der Zellen mit Schreibmaterial. Nicht nur der erstaunlich große Umfang der Büchersammlungen hängt mit dieser Buchnähe des Ordens zusammen, sondern auch das Erscheinungsbild der meisten Bücher. Bei Kartäuserhandschriften aus dem 15. Jahrhunderten handelt es sich überdurchschnittlich oft um umfangreiche, schmucklose Papierhandschriften, in denen eine Vielzahl von Texten, oft auch nur in Auszügen, zusammengetragen ist. Der Inhalt dieser Bände ist überwiegend aszetisch, mystisch oder moralisch, das heißt sie sollen selbst wieder der Meditation dienen.

Darüber hinaus umfasst die Mainzer Kartäuserbibliothek das ganze Spektrum mittelalterlicher Theologie wie Bibel- und Sentenzenkommentare, patristische und scholastische Abhandlungen, Predigtsammlungen, Messauslegungen, kartäusische Ordensliteratur und -statuten, Gebete, Marienverehrung, Florilegien und Exempel. Selbstverständlich sind Kartäuserautoren wie Heinrich Egher von Kalkar, Ludolf von Sachsen und Jakob von Jüterbog reichlich vertreten. Daneben finden sich aber auch Titel zu kanonischem Recht, Philosophie, Medizin, Naturkunde, Komputistik, lateinischer Dichtung (Hymnen, Sequenzen), Philologie, Rhetorik und Grammatik. Bedeutend ist der große Bestand an lateinisch-deutschen und lateinisch-niederdeutschen Vokabularien.

Während einer zweiten Blütezeit traten in der Mitte des 15. Jahrhunderts mehrere Heidelberger Magister und Studenten in das Kloster ein, darunter Heinrich von Waldkirch, Marcellus Geist und Johannes Juff de Butzbach. Sie brachten nicht nur ihre an der Universität entstandenen Handschriften mit, sondern kopierten oder verfassten auch weiterhin neue Texte. Durch Schreiber, Autoren und Vorbesitzer manifestieren sich zudem zahlreiche Verbindungen zu anderen Universitäten (Erfurt, Leipzig, Prag) und auswärtigen Kartausen (u.a. Basel, Köln, Koblenz, Trier). Darüber hinaus werden Beziehungen der Kartause zum Umland durch Provenienzketten und Urkundenmakulatur ersichtlich (Worms, Oppenheim, Kreuznach, Ingelheim, Bingen, Wetterau). Zwischen 1470 und 1475 schrieb man nach einer Lorscher Vorlage Predigten des Augustinus ab, von denen 26 an anderen Orten entweder gar nicht oder höchstens fragmentarisch erhalten sind (Hs I 9).

Zeitlich stammen die meisten der aus der erhaltenen Kartäuserhandschriften aus dem Spätmittelalter. Ein kleiner Bestand von liturgischen Handschriften entstand schon direkt nach der Gründung am Ort der neuen Ansiedlung. Wohl durch Schenkungen von Gönnern und befreundeten Institutionen erhielt man aber deutlich ältere Bücher, selbst aus dem 9. und 11. Jahrhundert (Buchschmuck).

Aus der Chorbibliothek ist nur eine erschreckend geringe Zahl von Handschriften erhalten. Dies gilt auch, nachdem in letzter Zeit einige der Liturgica aus der Anfangszeit des Klosters identifiziert werden konnten (u.a. Hs I 435).

Aus der Laienbibliothek sind etwa 100 deutschsprachige Handschriften vorwiegend aszetischen Inhalts überliefert, ihr ursprünglicher Umfang ist nicht mehr einzuschätzen (z.B. Meister Eckart, Otto von Passau, Hoheliedauslegung, Buch der Tugenden, Mystik).

Auflösung und Verbleib der Bestände

Aus den Beständen der Mainzer Kartause sind gut 800 mittelalterliche Handschriften überliefert – eine bemerkenswert hohe Zahl aus einer mittelalterlichen Bibliothek. Die 1781 noch in der Kartause befindlichen Bücher gingen damals an die Mainzer Universität, die jedoch selbst im Verlauf der Revolutionskriege geschlossen und in eine Zentralschule nach französischem Muster umgewandelt wurde. Als Napoleon 1805 verfügte, dass die Bibliothek der ehemaligen Universität in kommunale Verwaltung übergehen sollte, wurden die Bände Eigentum der neuentstandenen Stadtbibliothek. Die heutige Wissenschaftlichen Stadtbibliothek Mainz verwahrt (neben einem umfangreichen Bestand an gedruckten Büchern) 624 der Codices vom Michaelsberg.

Eine größere Gruppe von Handschriften war dem Kloster bereits während des Dreißigjährigen Krieges entfremdet worden. Etwa 100 der damals vom Erzbischof von Canterbury William Laud erworbenen Bände befinden sich in der Bodleian Library in Oxford, während 66 über den Herzog von Arundel in die British Library in London gekommen sind.

Über Mönche, die von einem in das andere Kloster versetzt wurden, ist zudem ein Dutzend Mainzer Kartausehandschriften nach Basel gelangt. Vier früh- und hochmittelalterlichen Pergamenthandschriften lagen bereits vor 1576 in der Wiener Hofbibliothek, ohne dass ihr Weg dorthin klar wäre. Darüber hinaus gibt es nach augenblicklichem Kenntnisstand nur einen geringen Streubestand in weiteren Bibliotheken.