Projektbeschreibung

Corpus Masoreticum ist ein von der DFG gefördertes Langzeitvorhaben, das auf eine Laufzeit von zwölf Jahren angelegt ist; es setzt sich mit der westeuropäischen aschkenasischen Masora-Tradition zwischen dem 12. und 14. Jh. auseinander. Das Projekt wurde von Anfang an auf einer digitalen Arbeitsumgebung angelegt (born digital), die fortwährend weiterentwickelt wird. Mittels der innovativen digitalen Editions- und Auswertungsmethoden setzt das Projekt neue Maßstäbe in den Digital Humanities und bringt vergessene Wissenskulturen wieder zusammen, die den kulturellen Hintergrund der westeuropäischen Masora- und Text-Traditionen bilden.

Der Text der Hebräischen Bibel durchlief viele Entwicklungsstufen, sowohl im Mündlichen als auch im Schriftlichen. Spätestens im 8. Jh. befassten sich verschiedene Gruppen von jüdischen Bibel-Gelehrten, den sogenannten Masoreten, mit allen Aspekten des biblischen Textes. Ihr Ziel war es, den Text mit größter Sorgfalt für spätere Generationen zu bewahren. Da das Hebräische eine Konsonantensprache ist, machten sich die Masoreten u.a. daran, ein Zeichensystem für die Vokalisation und Akzentuierung zu entwickeln. Tatsächlich wurden in den verschiedenen Gruppen unterschiedliche solcher Systeme erfunden. Im Verlauf ihrer Entwicklungstätigkeit mussten die Masoreten unzählige kleine, aber wichtige Entscheidungen bezüglich der präzisen Rechtschreibung und Aussprache des Textes treffen. Dies taten sie mit größtmöglichem Respekt vor dem überlieferten Text. Eine der primären Vorgehensweisen war die Annotation der Bibel mit einem Corpus tiefgreifender und immer weitreichenderer textkritischer Anmerkungen. Dieses Corpus von Annotationen wird heute als Masora bezeichnet. Die Masora – im Hebräischen masoret – bezieht sich auf Regeln der Rechtschreibung, Syntax, Vokalisierung, Kantillation etc. Masoretische Anmerkungen erscheinen als statistische Aussagen, die Bezug auf vergleichbare Bibelverse nehmen; so sollte eine größtmögliche Genauigkeit bei der Überlieferung und beim Kopieren des Textes gewährleisten werden. Und dennoch ist die Masora mehr als nur eine Sammlung von ‘Fußnoten’ zum biblischen Text. Sie beinhaltet ein ganzes System von mittelalterlichem jüdischem Wissen in sich.

Die Masora findet sich in umfassender Form erstmals in den großen mittelalterlichen Bibelcodizes, wie z.B. im Codex Cairensis, im Aleppo Codex oder im Leningrad Codex, die zwischen dem 10. und 11. Jh. geschrieben wurden. In diesen Manuskripten erscheint die Masora in unterschiedlicher Form: Zunächst gibt es die masora parva oder ‘kleine Masora’. Diese äußerst kompakte, abgekürzte Masora findet sich überwiegend rechts und links von den Kolumnen des biblischen Haupttextes. Daneben gibt es die masora magna oder ‘große Masora’. Diese wird in der Regel oberhalb und unterhalb des Bibeltextes notiert. Schließlich findet sich in orientalischen und sephardischen Kodizes, meist am Ende der Manuskripte, eine Zusammenstellung masoretischer Notationen, die sog. masora mezarefet.

Auch im mittelalterlichen Aschkenas, einer Region, die sich über das heutige Nordfrankreich und Deutschland erstreckt, beschäftigte man sich mit der Masora. Trotz ihrer grundsätzlichen Vergleichbarkeit finden sich sowohl im biblischen Text als auch in der Masora regionale Variationen, die sich aus historischer Perspektive zu untersuchen lohnen. In Aschkenas tradierten jüdische Schreiber und Bibelfachleute die Masora, die sie auf indirektem Wege aus orientalischen Kodizes übernommen hatten, entwickelten sie aber gleichzeitig formal und inhaltlich weiter. Aus kunsthistorischer, aber auch aus kodikologischer und philologischer Sicht ist es faszinierend zu sehen, dass die masora magna in aschkenasischen Bibeln oftmals in Form von elaborierten geometrischen oder figurativen Mustern und Gestaltungen geboten wird, wobei sie dabei oft mit akkumulativer Masora angereichert ist. Dieses Phänomen wird als masora figurata bezeichnet. Zwar wurden einige dieser masoretischen Illustrationen bereits von Kunsthistorikern untersucht, doch wurde dabei fast nie auf den Inhalt des masoretischen Textes und seine philologische Qualität eingegangen. Anders gesagt: Nur sehr wenige Forscher haben bislang die winzigen Buchstaben entziffert oder sie im Detail studiert; ihr kultureller oder intellektueller Kontext blieb oftmals unberücksichtigt.

Ziel des Projektes ist es, unter Anwendung verschiedenster Verfahren der digitalen Edition zu zeigen, welche Masora- und Bibeltext-Traditionen sich in aschkenasischen Bibeln finden, und wie diese im Detail zu analysieren sind. Zu diesem Zweck wurde BIMA 2.0 entwickelt. BIMA 2.0 ist eine kollaborative digitale open source Arbeitsumgebung, die auf der Grundlage graphenbasierter Datenmodelle (sog. text-as-a-graph mit Neo4J) eine intuitive Benutzeroberfläche bereitstellt, die es den Forscher:innen ermöglicht, unterschiedlichste Arten von handschriftlichen Textbefunden wie Bibeltext, Masora oder Glossen in einem Arbeitsbereich so zu transkribieren, zu übersetzen und analysieren, dass Bild und Text eng visuell verbunden sind. Erreicht wird dies durch die Verwendung von farbig markierten Textpfaden auf SVG-Basis, die direkt auf die Oberfläche von hochauflösenden Bildern der Manuskriptseiten gelegt werden. BIMA 2.0 bezieht Handschriftendigitalisate mittels des IIIF-Protokolls und erzeugt wiederum mit Annotationen angereicherte IIIF-Manifeste direkt aus der Editionsumgebung heraus. Die digitalen Aspekte unseres Projektes führen auch zu einer Reevaluierung der Frage, was eine Edition zu repräsentieren habe. Die digitale Editionstechnik macht es dabei unumgänglich, Methodologie und Beobachtungsansätze präzise zu definieren und zu formalisieren. Zum ersten Mal wird eine diplomatische Edition dem Leser nicht nur das edierte Material in linearer Form darbieten, sondern es auch mit seiner Form und seinem Layout verknüpfen. Die Beziehung zwischen dem mikrografischen Bild und seinem philologischen Inhalt wird sicht- und interpretierbar. Dadurch werden zukünftige Erforschungen der Frage danach ermöglicht, wie Wissen gesammelt und verbreitet, aber auch versteckt und chiffriert wurde.

Im Zentrum der Arbeit der ersten Förderungsphase von Corpus Masoreticum standen auf der DH-Seite die Entwicklung und Einrichtung von BIMA 2.0; in der philologischen und Editionsarbeit stehen die großformatig dekorierten aschkenasischen Bibeln mit mikrographischen Illustrationen aus dem 13. und 14. Jh. sowie ihre textkritische Rezeption durch aschkenasische Gelehrte und halachische Koryphäen im Mittelpunkt. Die masora figurata sowie umfangreiche Teile der linearen masora magna von vier unserer 24 Manuskripte sind inzwischen ediert. Diese Editionen, die mit zunehmender Projektlaufzeit mit zusätzlichen Inhalten und Funktionen für die Nutzer ergänzt werden sollen, sind online über die Plattform BIMA 2.0 zugänglich. Schon jetzt konnten bahnbrechende Resultate hinsichtlich der philologischen Eigenschaften der masora figurata, ihrer Funktion und ihrer Zweckbestimmung erzielt werden. Die digitale Infrastruktur, die aus der Projekt-Wiki-Lösung Confluence und dem Arbeitsbereich BIMA 2.0 als gemeinsamem digitalem Repositorium für die gesamte Editionsarbeit und für zukünftige philologische, exegetische, linguistische und paläographische Untersuchungen besteht, hat sich als wesentliches Werkzeug für diplomatische digitale Editionen jedweder Art bewährt. Zur Förderung seiner Einbindung in die wissenschaftliche Gemeinschaft wurde für Corpus Masoreticum ein internationales Advisory Board eingerichtet und eine eigene Veröffentlichungsreihe: Corpus Masoreticum Working Papers (CMWP) etabliert. Zwei Dokumentationsvideos, in denen Ziele und Methoden des Projektes vorgestellt werden, ermöglichen auch dem interessierten nicht-fachwissenschaftlichen Publikum erste Einblicke in die faszinierende Welt der masora figurata.
Video - BIMA 2.0
Video - Corpus Masoreticum: Introduction