B194: Die versuchte Treue
Narrativ gerahmter Dialog über den Wert der Beständigkeit und Treueprobe für eine von Liebesglück erfüllte Dame
Verfasser: unbekannt
Datierung: früheste Überlieferung um 1464 (Mü4) bzw. 15. Jh. (He10)
Überlieferung:
He10 85v–94v; 392 V.
Mü4 30v–37r; 390 V.
Kurzfassung:
Be3 149v–156v; 354 V.
Lg4 141v–148v; 355 V.
Pr2 122r–127v; 356 V.
Fragmentarische Fassung:
St5 288r–294v; 310 V.
Edition:
Haltaus 1840, 206–210 Nr. II 45 (nach Pr2 mit Laa. von Lg4 auf XLVIII); Geuther 1899, 128–130 (Abdruck
der Verse Mü4 1–16, 87–99 mit den Laa. von He10); Matthaei 1913, 156–158 (Laa. von He10 zu Pr2)
Literatur:
Geuther 1899, 35, 128–130; Rheinheimer 1975, 200;
Fürbeth
2VL 10 (1999), 307
Beschreibung der Überlieferung:
Der Text ist im Kontext von reinen Minnereden-Sammlungen (He10) bzw. Minnereden-Blöcken in Sammelhss. (Be3, Lg4, Pr2, St5) überliefert. Einzig in Mü4 steht er im Kontext einer thematisch breiteren Spruchhs., jedoch auch hier umgeben von Minnereden. Sieht man von den beiden späten Abschriften Be3 und Lg4 ab, so beschränkt sich die Überlieferung auf die zweite Hälfte des 15. Jh.
Mü4 und He10 unterscheiden sich nur in einzelnen Wortvarianten, die aber keine signifikante Änderung des Sinns bewirken. Zudem ist das Verspaar He10/Mü4 117f. umgestellt. In Mü4 fehlt die Schlusssentenz He10 391f.
Eine kürzere Fassung mit teilweise deutlicher Varianz bieten die Hss. der ›Hätzlerin-Gruppe‹ (Be3, Lg4 und Pr2): Hier fehlen die Verse He10/Mü4 87–96, 117–126, 145f., 163f., 173f., 193f., 265f., 291f., 377–380 (in Be3 fehlt zusätzlich der Vers He10 245; in Be3 und Lg4 fehlt der Vers He10 341). Die drei Hss. dieser Gruppe (und St5) bringen nach He10 348 aber auch ein zusätzliches Verspaar (Pr2 315f.). Durch die Textausfälle ist die Struktur des Gespräches stellenweise gestört, einige Argumente fehlen (He10 87ff.: Vergleich der Männer mit dem Adler; He10 117ff.: Vorwurf, sie vertraue dem Mann zu sehr, selbst wenn es ihr Ehemann wäre). Die recht deutliche Varianz der Hss.-Gruppe zu He10/Mü4 auf Wort- und Satzebene (vgl. dazu vor allem die Angaben bei Matthaei 1913, 156–158) bringt jedoch nur in seltenen Fällen signifikante Änderungen des Sinns hervor: So sind bei der Passage He10 341–343, in der die Dame sich rühmt, der Geliebte würde ihren Wünschen folgen, die Agenten vertauscht: Will er nain, ich will auch so | Will er Ja so bin ich fro | Sein will sol mein will sein (Pr2 307–309). An den Schluss setzt die Hss.-Gruppe die in He10/Mü4 nicht vorhandene Aufforderung an alle Damen, unbeständige Männer zu hassen und zu vertreiben, um weiteren Schaden abzuwenden.
Der Text von St5 wird von Brandis unter der Nummer B195 als eigenständige Minnerede geführt (›Zuversichtliche Liebe einer Frau‹), da der Texteingang signifikant abweicht: Die ersten 46 Verse der Restüberlieferung werden durch 40 neuformulierte Verse ersetzt. Darin kommt es zu kleineren inhaltlichen Umakzentuierungen: Das Unglück des Sprechers als Motiv für den Spaziergang wird etwas stärker hervorgehoben, das Lachen der Dame nicht beschrieben: Hier fragt der Sprecher die Dame nur, weshalb sie hier sitze. Ihre Antwort gibt die Dame explizit als Trost für den offensichtlich traurigen Sprecher, nicht als Erklärung für ihre Freude. Mit Vers St5 41 folgt die Aufzeichnung der Restüberlieferung und steht dabei von der Textvarianz her zwischen den beiden genannten Fassungen. Gemeinsam mit den Hss. der ›Hätzlerin-Gruppe‹ sind die Textlücken (wie in Pr2; zusätzlich fehlen in St5 die Verse He10 144 und 147 sowie He10 328 und 331) sowie u.a. auch die beschriebene Umkehrung der Agenten in der Passage He10 341–343. Andererseits geht St5 in zahlreichen Wort- und Satzvarianten mit He10/Mü4. Die Aufzeichnung in St5 (als letzter Text der Hs.) wurde nicht vollendet: Der Text bricht auf fol. 294v nach zwei Versen und mitten im Satz (He10 351) ab, der Rest der Seite ist leer.
Überschrift:
Das ist der sproch da die frawe dem frumen Ritter also wol getruwet (He10)
Wie ain fraw stät was (Mü4)
Von einer gar frölichen frawen (Pr2; gleichlautend in Be3 und Lg4)
Vollendet ist die rede Ein ander ist nachvolgende (St5)
Inhalt:
(nach He10) · A Spaziergangseinleitung (1–29): Der traurige Sprecher folgt einem windungsreichen Bach bis zu einer Quelle. Im Wasser spiegeln sich nicht nur die grauen Wolken, sondern auch das leuchtende Bild einer Frau. Der Sprecher verfolgt den Ursprung der Spiegelung und sieht neben der Quelle eine schöne Dame sitzen, die nichts tut als lachen (28f.: Sie lachet vnd lachet | Vnd lachet aber dar).
B Treueprobe (30–211): Der Sprecher fragt die Dame nach dem Grund ihrer Freude. Es entspinnt sich ein langes Gespräch, in dem der Sprecher die von der Dame gegebenen Begründungen kritisch hinterfragt. ♦ Die Dame gibt an, sie habe so viel Freude, dass sie sie mit anderen teilen müsse. Alles Leid sei in der Glut ihrer Herzensschmiede verbrannt worden. Der Sprecher solle ihr helfen, die schwere ›Bürde‹ der Freude zu tragen. ♦ Der Sprecher wundert sich, da sie doch ganz allein und daher ohne Grund zur Freude sei. ♦ Sie widerspricht: Der beste aller Ritter (63: Er ist ein plume in ritterschafft) liebe sie, beständig und ohne ihre Ehre zu verletzen (ehrenhafte Minneerfüllung). ♦ Der Sprecher gibt zu bedenken, dass Männer oft lügen und die Frauen wie Magnete (80: Alz mangnes vnd augsteine) anziehen, ohne sie wirklich zu lieben. ♦ Sie verteidigt ihren Geliebten als rechtschaffen und aufrichtig. ♦ Der Sprecher glaubt, dass sie die Männer und deren Treue schlecht kenne: Wie ein Adler griffen diese immer das Nächstliegende an. ♦ Sie ist sich sicher, dass ihr Ritter sie exklusiv liebe (so wie sie ihn). Er habe ihr geschworen, dass sie sein einziger Trost sei. Er sei daher das Spiegelglas ihres Herzens. ♦ Der Sprecher wendet ein, dass auch gute Freunde oft getrennt würden. ♦ Sie weist den Sprecher zurecht: Ob er ihr ihren Geliebten denn schlecht machen wolle? Das hätten schon andere versucht. Sie wolle den Geliebten niemals aufgeben. ♦ Der Sprecher räumt ein, noch nie eine so standhafte Frau gesehen zu haben, warnt aber, dass sie dem Mann zu sehr vertraue (118f.: Het ir in zu rechter ee | ir gelaubtet im ze sere genuog). ♦ Sie bekräftigt, dass der Geliebte immer an sie denke und seine Rittertaten in ihrem Namen vollbringe.
♦ Der Sprecher geht davon aus, dass der Mann sie anlügt und die gutgläubige Dame wachgerüttelt werden müsse (132–135: Waffen liebe frawe hey | Wie sit ir so einfaltig | Die wort sint dicke spaltig | die vor ewch gantz erschinent). ♦ Sie weist diese Zweifel zurück und bezeichnet den Sprecher als tiuel (140), auf dessen Provokationen sie nichts gebe. ♦ Der Sprecher führt die Hartnäckigkeit der Dame (146: ›er hätte in derselben Zeit schon zehn Männer bekehrt‹) auf ihre Verzauberung durch den Mann zurück. ♦ Sie bestätigt dies: Der Geliebte verzaubere sie täglich durch seine ritterlichen Taten. ♦ Der Sprecher wendet ein, dass es keinen Grund für den Ritter gebe, andere junge und schöne Damen zu verschmähen. ♦ Die Dame sähe es als großes Unrecht an, wenn ihre Treue nicht erwidert würde: Sie habe den Geliebten in ihrem Herzen eingeschlossen und die rechte Treue zu einem Vormund, die Beständigkeit zu einem Grundstein in ihrem Herzen gemacht. Sie wolle dem Geliebten nie untreu werden, auch wenn man sie deshalb für dumm halte – schließlich kenne sie keinen, der dessen so wert wäre wie er. Er verlange Treue, so werde er ihr auch Treue erzeigen. Durch ihn, den vollkommenen Ritter (176: Der trüwe vnd ritterschafft kan lesen | Mit voller hant in seinem sin), werde sie täglich aufs Neue erfreut. ♦ Der Sprecher will ihre Euphorie bremsen (182f.: Ich sprach frawe den segel sencke | die winde wewent her vnd dar) und verweist darauf, dass der Geliebte in Ausübung der Ritterschaft in der Fremde sicher andere Damen treffen und sie darauf vergessen werde. ♦ Die Dame ist sich der Treue des Geliebten sicher und will ihn nicht dafür verdammen, wenn er Gefallen und Anerkennung bei Männern und Frauen finde – im Gegenteil, sie werde umso mehr erfreut daz er sus kan muot geben | mir vnd allen lüten (202f.). Seine Schönheit und Vorbildlichkeit seien so herausragend, dass sie ihn auch lieben müsste, wenn er einen anderen Glauben hätte, ein Jude, Tatar oder Sarrazene wäre.
C Gespräch über die Treue (212–371): Der Sprecher lenkt ein: Die Dame sei offensichtlich die beständigste aller Frauen und durch keinen Zweifel zu verunsichern. Die Tatsache, dass es noch beständige Damen in der Welt gebe, wolle er gerne allen Männern verkünden. Er wolle diese damit selbst zur Beständigkeit ermahnen, gleichzeitig aber auch quälende Zweifel an der Damenwelt ausräumen (?) (Diese Passage ist nicht recht verständlich). ♦ Die Dame antwortet mit einem Preis ihres Geliebten (er übertreffe sie noch an Liebesglut) und einer erneuten Bekräftigung ihrer Treue (auch wenn sie in Ketten läge, gälten ihre Gedanken nur seinem Wohlergehen) sowie der Feier ihrer gegenseitigen Liebe: Sie würden untadelig zueinander stehen; hätten sie zu wählen, so würden sie sich gegenseitig aller Welt vorziehen. Sie richte sich vollständig auf den Geliebten aus, von dem sie Treue und höchste Freude zu erwarten habe. Die Dame tadelt den Versuch des Sprechers, sie von dieser Liebe abzubringen. ♦ Der Sprecher enthüllt nun, dass seine Einwände als Treueprobe gedacht waren (Begründung mit einer allgemeinen Weisheit, 273–275: Wan frawen die sin kurtz gemuot | Sie rückent gern hin den huot | Nach dem winde her vnd dar). Er lobt erneut ihre einzigartige Beständigkeit und preist den Geliebten als glücklich und dieser Ehre wert – sofern er ihre Treue erwidere und nicht nachlasse, in Ausübung seiner Rittertugenden sie zu ehren und in ihr das ganze weibliche Geschlecht. Er wünscht der Dame, dass ihr nie Leid aus dieser Liebe erwachsen möge. ♦ Die Dame bestätigt, dass sie den Geliebten loben müsse. ♦ Der Sprecher stilisiert die Begegnung nun zum Exempel: Er dankt Gott, hierher gekommen zu sein und gefunden zu haben, woran er nicht mehr glaubte: Dass ein liebp dem andern gelauobet (317). Diese gute Botschaft wolle er verkünden, wohin er auch komme. Er sei selbst, seit er liebe, voller unstillbarer Zweifel an der Existenz wahrer Treue gewesen. ♦ Die Dame schilt ihn, man solle dem Liebespartner und nicht den Feinden der Liebe trauen. ♦ Der Sprecher erwidert, dass sie gut reden könne. Würde sie jahrelang enttäuscht, könnte sie auch nicht mehr an das Gute glauben. Selbst ein Mönch würde sich freuen, über solche Treue und Beständigkeit zu verfügen. Leute wie ihn habe man durch Betrug zum Blinden gemacht. ♦ Die Dame betont, dass man wohl merke, wie man sich gebunden habe: Sie und ihr Freund seien in einmütiger und ehrenvoller Liebe vereint (341–344: Sprich ich ia er wil also | Sprich ich neyn so ist er fro | Min wille sal sin wille sin | Er schont iedoch der ern myn). ♦ Der Sprecher preist erneut ihr Glück und ihre Beständigkeit. ♦ Sie bekräftigt lachend den Exempelcharakter ihrer glücklichen Liebe: Der Sprecher solle als Lehre daraus seiner Geliebten vertrauen (355: gelaube auch dinem liebe) und damit zum Dieb an aller Unbeständigkeit werden. ♦ Der Sprecher nimmt den Rat an, entschuldigt seine Einwände erneut als Treueprobe und versichert die Dame seiner Verehrung ob ihrer Beständigkeit. ♦ Die Dame verabschiedet sich mit dem Botenauftrag: Vnd künde ez ioch wem euch gelüst (371).
D Lehre (372–392): Der Sprecher reitet heim. Durch den Wechsel vom Präteritum zum Präsens geht er zu Bekenntnis und Lehre über: Wer ez wil her so bin ichs wer (374). Er wolle der Dame in ihrer Beständigkeit nachfolgen, da man zudem viele Freunde verliere, wenn man sich einer anderen Geliebten zuwende. Er rät allen guten lüden (381), die Unbeständigkeit im Herzen auszujäten und an ihrer Stelle Beständigkeit zu säen. Den Liebenden rät er, treu zu sein, um Widertreue zu erfahren. Der Sprecher schließt mit einer Sentenz (391f.): Derjenige lebt gut, der allen Zweifel hinter sich lassen kann.
Parallelen:
Geuther 1899, 70–73, verweist auf ähnliche Formulierungen in den in He10 parallel überlieferten Minnereden B213 und B219 (mit Belegstellenliste) und vermutet einen mitteldeutschen Dichter ›Gozold‹ (nach der Überschrift von B213 in He10) als gemeinsamen Autor aller drei Texte.
In B236 wird ebenfalls eine (erst im letzten Drittel des Textes enthüllte) Probe geschildert, dort aber prüft die Frau den Mann.
Die Überlieferungsbesonderheit von St5, den Text mit einem alternativen Texteingang zu versehen, danach aber mit einer relativ getreue Überlieferung einer mehrfach überlieferten Fassung fortzusetzen, hat eine Parallele in der Überlieferung von B247 (vgl. dort den alternativen Texteingang Mü19 191v–192r).
[Die Informationen stammen aus: Jacob Klingner/Ludger Lieb: Handbuch Minnereden. Berlin, Boston: de Gruyter 2013, Band 1. - Korrekturen, Aktualisierungen und Ergänzungen werden stillschweigend vorgenommen.]