B444: Die zehn Schwestern
Klage der Mannheit über Tod und schwere Krankheit ihrer neun Schwester-Tugenden, durch deren ›Schule‹ ehemals jeder junge Ritter gehen musste
Verfasser: unbekannt
Datierung: früheste Überlieferung Ende 14. Jh. (Ha3)
Überlieferung:
Gruppe I: Be8 30ra–34ra; 678 V.
Ha3 16ra–20rb; 672 V.
Gruppe II: He10 118v–134r; 680 V.
Ka1 S. 302–312; 674 V.
Gruppe III: He3 261v–270v; 547 V.
Edition:
Matthaei 1913, 81–91 Nr. 8 (nach He10; mit Laa. von Be8, He3 und Ka1); Kossmann 1940, 41–49 Nr. 34 (nach Ha3 mit Laa. von Be8, He3 und He10)
Literatur:
Martin 1867, 364; Matthaei 1907, 14–26, 32; Blank 1970, 88, 106f.; Glier 1971, 275, 277, 279, 404, 415; Kasten 1973, 91–94; Rheinheimer 1975, 9, 16–23; Ziegeler 1985, 73; Griese 2VL 10 (1999), 1511f.; Janota 2004, 340; Brügel 2006, 223; Tervooren 2006b, 182f., 185; Uhl 2010, 125, 228–233, 276 Anm. 21
Beschreibung der Überlieferung:
B444 gehört zu den wenigen mehrfach überlieferten rheinischen Minnereden (Verszählung im Folgenden nach He10). Der Text ist in vier Hss. vollständig überliefert, von denen Be8 und Ha3 (Gruppe I) sowie He10 und Ka1 (Gruppe II) näher zusammengehören. He3 enthält eine kürzere (fragmentarisch abbrechende?) Fassung (Gruppe III).
Gruppe I: In der frühesten Überlieferung der niederländischen Liederhs. Ha3 steht B444 zwischen einer mitteldeutschen Liebesklage (B63) und liedhaftem Gut. In der ripuarischen Sammelhs. Be8 (1. Viertel 15. Jh.) bilden B444 und B423 nicht wesentlich später den 4. Faszikel, beide Texte sind typologisch ähnlich durch zahlenhaft reihende Systematisierungstendenzen. – Gruppe I hat Varianzen bei einzelnen Wörtern und Reimwörtern, vereinzelt auch auf der Ebene ganzer Reimpaare, z.B. Be8: hertzen / smertzen (gleichlautend in Ha3) gegenüber He10 9f.: sproßen / verstoßen; Be8: yd geit allit ais id maich | das deit mir weirlich vngemach und Ha3: Is geyt allet als it mach; | Vele anders dan id plach gegenüber He10 247f.: ez get allez an stuere. | noch wirser dann ein luere. Ansonsten weist Be8 einen geringfügigen individuellen Textverlust von zwei Versen auf durch Kontraktionen (He10 275f. und 495f.) und geht an Differenzstellen öfter nicht mit Ha3 gemeinsam, sondern mit den (ober)deutschen Hss. Ha3 bietet wie auch bei der Überlieferung anderer deutscher Minnereden (vgl. B255) einen unsorgfältigen Text mit Minusversen (He10 77–80, 113, 337f. 496) und Entstellungen (u.a. 11, 142f., 273–276). So wird z.B. He10 142f. (min hercz lit in einer zange | von fremdem quelendem leide) in Ha3 unverständlich verballhornt (Mine hertze dat in eynre tzangen | Van urmen quellingen liden). Unterschrift in Ha3: Explicit.
Gruppe II: He10 (Oberrheingebiet, vor 1410) überliefert den Text als letzten in einer Dreiergruppe von rheinischen Minnereden (B480, B410, B444) und bietet den vollständigsten und verlässlichsten Text, dazu eine Überschrift. Ka1 (15. Jh.) überliefert im zweiten Teil der reinen Minneredenhs. den Text ebenfalls zusammen mit B410 (und auch in der gleichen Reihenfolge – identische Vorlage?). Beide Hss. weisen nur geringe Textvarianz auf. Ka1 hat in der zweiten Texthälfte sechs Minusverse (350f., 383f., 489, 492).
Gruppe III: Die relativ späte (1478) und oberdeutsche reine Minneredenhs. He3 überliefert B444 nach der typologisch sehr ähnlichen ›Schule der Minne‹ (B433). Am Ende der Belehrung der Minne (He10 558) bricht der Text ab (aufgrund der Vorlage oder durch redaktionellen Eingriff?). Der Text endet allerdings trotzdem sinnvoll mit der Apostrophe: Darvmb jung mann vlis dich | Das du mynnest ernstlich | Amen (557f.). – Im Übrigen findet sich eine stärkere Textvarianz von He3 gegenüber He10: u.a. fehlen die Verse He10 73f., 99f., 408, 479f., 494f., 505f.; 245f. und 247f. sind vertauscht; die Reime in 273f., 459f. sind verderbt.
Überschrift:
Eyne scone ritterliche spruoch van Eren vnd van waphen (Ha3)
Diser spruch ist von den zehen swestern (He10)
Inhalt:
(Nach He10) . A Klage der Manheit (1–271): Der Text hat keine eigentliche Rahmenhandlung, der Sprecher befindet sich von Anfang an in der ›Anderwelt‹. Dort begegnet ihm unter nicht näher geschilderten Umständen eine vorerst noch namenlose Dame. Diese wehklagt und fällt nach zahlreichen Ach-Rufen (4, 6, 16) zweimal in Ohnmacht. Beim ersten Mal belebt er sie mit einer taunassen Blume, beim zweiten Mal richtet er sie aus dem nassen Klee auf. Da er sie trösten möchte, stimmt er erst einmal mit Lobblumen (41–52; vorwiegend Genitivkonstruktionen und ungewöhnliche Bildmischungen) einen Preis auf sie an. Als er sie jedoch nach der Ursache ihres großen Leides fragt, gelingt es ihm erst im dritten Anlauf (55, 90f., 104f.), von ihr eine klare Antwort zu erhalten. Sie erzählt ihm dann, dass sie eine von zehn Schwestern aus einem Königsgeschlechte sei. Alle ihre Schwestern hätten auch die Krone getragen, acht von ihnen seien aber innerhalb von kurzer Zeit ohne Erben gestorben. Auf die Frage nach deren Namen nennt sie Gerechtikeit (149), Maz (155), Stete (160), Warheit (164), Truewe (164), Scham (172), Bescheidenheit (179), Miltikeit (198). Die Frage nach der neunten Schwester ergibt, dass diese Mynne (240) sei, die schwerkrank zwischen Leben und Tod schwebe. Durch die Krankheit sei sie in ihrem Wesen auch ganz verändert. Mynne spiele als älteste und vornehmste (heiligste) Schwester die wichtigste Rolle, was die Dame auch theologisch begründet: Auf ihr beruhe die gesamte Schöpfung und die Menschwerdung Gottes (228–242). – Als der Sprecher die Dame nach ihrem eigenen Namen fragt, stellt sie sich als Manheit (259; Tapferkeit, männliches Wesen) vor. Sie rühmt sich ihrer Gewalt in der ganzen Welt und offenbart, dass sie so elementar sei wie ein Wolkenbruch und über alles hinwegbrause – ohne Rücksicht auf Verluste.
B Das Regiment der Manheit (272–341): Der Sprecher fällt aus seiner fragenden Rolle und macht Manheit Vorhaltungen wegen ihres unritterlichen und unhöfischen Wirkens. Er weist sie unter der Berufung auf Autoritäten (279: daz hoer ich von den wisen) auf Konsequenzen hin: Ihr alleiniges Regiment ohne die anderen Tugenden (ein zweites Mal aufgelistet in der gleichen Reihenfolge) sei Sünde. Es führe zu der Entartung des Rittertums, was auch sprachlich adäquat ausdrückt wird: rita, rit,| vihta, sticha, strita, strit! | var von heyme in fremde lant, | renna, toed den lip zu hant, | ich enbit dich anders nymme (299–303). Weiterhin betont der Sprecher noch den engen Zusammenhang zwischem wahrem Rittertum und Minne.
C Die Schule der Tugenden (342–589): Die nächste Frage des Sprechers, warum die Ritter heute nicht mehr wie früher angehalten würden, nach den oben genannten Tugenden zu leben, veranlasst Manheit, diese Vergangenheit noch einmal aufleben zu lassen: Sie erzählt, dass sie zu Lebzeiten ihrer Schwestern die Aufgabe gehabt habe, ein großes Parlament im Palast einzuberufen, wenn ein junger Mann den Ritterstand begehrt habe. Sie und ihre Schwestern hätten ihm bei dieser Gelegenheit vermittelt, dass er ihre Lehren prüfen und auf ewig in sein ›Herzensbuch‹ einschreiben solle. Zum dritten Mal lässt Frau Manheit dann die neun Schwester-Tugenden auftreten, deren ›Schule‹ der zukünftige Ritter durchlaufen müsse. In der schon bekannten Reihenfolge tragen sie einzeln ihre Lehre vor. Dabei wird wiederum die Minne in ihrer Sonderrolle bestätigt (537f.: zu ritterschafft nye bessers wart | dann mynne eins reinen wibes zart) und dem zukünftigen Ritter in einer Apostrophe (557–560) besonders ans Herz gelegt. Das Schlusswort an ihn kommt von Manheit, die noch einmal ausdrücklich auf den Zusammenhang von Ritterschaft und Tugenden verweist (566–569: min swester hant geleret nu | dich vil genczlich ir leben. | der tugend keine du salt begeben,| ich, Manheit, han sie alle wert).
D Zeitklage (591–671): Auf die letzte Frage des Sprechers, wie denn jetzt nach dem Tod der Schwestern ein Mann Ritterschaft erwerben könne, gibt Manheit eine resignierte Antwort. Sie habe keine Helfer mehr. Zweifelhafte Unterstützung fände sie nur bei Nit (600), wohl im Sinne von ›Missgunst‹ zu verstehen, der sie zu Lebzeiten ihrer Schwestern überhaupt keine Bedeutung beigemessen habe. Nit habe die Rolle der Lehrmeisterin bei den jungen Männern übernommen. Sie richte deren Gesinnung allein auf ein missgünstiges Wetteifern mit den Taten des Nachbarn aus. Aber auch die lebensbedrohliche Krankheit der Minne habe Folgen. Zum einen habe Wankelmut die Männer erfasst, zum anderen richteten sie sich bei ihrer ritterlichen Bewährung ausschließlich nach den Wünschen der Frauen. Sie selbst erfahre daher von den Frauen bei der eigentlich ritterlich-höfischen Erziehung der Ritter überhaupt keine Unterstützung. Beide, sowohl Männer als auch Frauen, hätten vergessen, dass ein Ritter im Hinblick auf die Mannheit doch viele Tugenden (668: tusent tugend) aufweisen müsse.
E Auftrag (672–680): Der Text endet so abrupt, wie er auch begonnen hat. Bevor die Manheit verschwindet, gibt sie dem Sprecher noch einen Auftrag: Er solle in der Welt falschen Urteilen über sie entgegentreten und sie verteidigen. Er wisse doch, warum sie der Freuden beraubt sei (textexterne Anschlusskommunikation).
Parallelen:
Ähnliche Systematisierungstendenzen und Zahlensymbolik in B307, B339, B358, B423, B433, B481, B496, B516; Tugenden als Schwestern in B454, B465 und B477; Ohnmächtige und deren Wiederbelebung in B213, B255 und B454.
[Die Informationen stammen aus: Jacob Klingner/Ludger Lieb: Handbuch Minnereden. Berlin, Boston: de Gruyter 2013, Band 1. - Korrekturen, Aktualisierungen und Ergänzungen werden stillschweigend vorgenommen.]